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Vor uns die Nacht

Vor uns die Nacht

Titel: Vor uns die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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Kuschelrock auf und fummelte. Oder er verzog sich vor den Fernseher, wahlweise auch vor den Computer – aber auf jeden Fall in einen geschlossenen Raum. Nein, dort unten auf der Promenade werde ich umgeben von Fremden sein und somit in Sicherheit. Und mit ein wenig Glück bin ich nach dem abendlichen Training so erschöpft, dass ich traumlos schlafe und nicht mit Jan und dem Dicken konfrontiert werde. Wobei Jan den Dicken mittlerweile eindeutig überstrahlt und immer mehr aus meinem Traumsichtfeld rücken lässt. Dafür bin ich ihm dankbar, doch es beschert mir eine andere Form von Frust, denn ich weiß immer noch nicht, ob Jan die Schlägerei heil überstanden hat. In den ersten zwei Wochen nach Silvester habe ich sogar die Todesanzeigen in der Tageszeitung durchforstet, glücklicherweise ergebnislos. Andererseits hätte es mir Jonas längst gesagt, wenn Jan in dieser Nacht ums Leben gekommen wäre. Es wäre ihm eine persönliche Freude. Er kann ja nicht wissen, dass Jan mich vor einer Gewalttat gerettet hat – und zwar ganz alleine gegen drei Gegner.
    »Na gut«, erwidert Johanna skeptisch, nachdem sie eine Weile Löcher in die Luft gestarrt hat und wahrscheinlich das Gleiche empfindet wie ich: Wir reden aneinander vorbei. Trotzdem kann ich mich nicht dazu überwinden, ihr zu erzählen, was mir auf dem Herzen lastet. Denn ich müsste von meiner Stalking-Attacke auf Jan berichten, für die ich mich einerseits schäme und die andererseits niemand verstehen würde. Auch Johanna nicht. Noch immer verspüre ich das Bedürfnis, in diese Momente zurückzutauchen und im Nieselregen hinter ihm her zu pirschen, weil es in diesen wilden Herzschlägen nichts anderes gab außer ihm, mir und der Nacht um uns herum.
    »Sag mal, Ronia … Hast du vielleicht wieder einen Neuen? Ist es das? Hast du jemanden kennengelernt?«
    Ich lache trocken auf. Einen Neuen habe ich nicht, jemanden kennengelernt auch nicht wirklich, und trotzdem kommt mir mein heftiges »Nein« wie eine weitere Lüge vor. Johannas Frage ist berechtigt – wann immer ich mich in der Vergangenheit frisch verliebt hatte, drehte sich meine Welt nur noch darum und Johanna musste kämpfen, um zu mir durchzudringen und mir eine Verabredung abzuringen. Wenn Johanna und ich uns mal nicht grün waren, dann aus diesem Grund. Weil sie nicht verstand, was mich in diesen Wochen bewegte, und ich nicht verstand, warum sie das nicht verstand. Es ist nur logisch, dass sie diese Vermutung ausspricht.
    »Ehrlich nicht, Josy.«
    Ich sehe an ihren Bambiaugen, dass sie nicht ganz überzeugt ist, doch bevor ich ihnen direkt begegnen kann, senkt sie ihre langen, dichten Wimpern.
    »Oder ist es doch Jonas? Der ist ja nicht neu. Hast du dir endlich einen Ruck gegeben und …«
    »Johanna!«, rufe ich aufgebracht und kassiere einen weiteren Blick von der Thekenkraft, die mit verschränkten Armen hinter dem leeren Buffet steht und sehnlichst darauf wartet, dass wir endlich unsere Tabletts zurückbringen und verschwinden. Freitagnachmittags haben Studenten in der Uni nichts verloren. »Kannst du bitte ein für alle Mal damit aufhören? Du bist ja langsam schlimmer als meine Eltern.«
    »Ich glaube ja nur, dass es – na ja, dass es gut für dich wäre. Und dass es gut wäre, wenn du dem ewigen Hin und Her mal ein Ende setzen und dich entscheiden würdest.«
    »Da gibt es nichts zu entscheiden! Und es gibt auch kein Hin und Her. Warum glaubst du mir das nicht?« Ich glaube es ja selbst nicht. Zuletzt zweifelte ich gestern Abend an mir und meiner Sturheit, als das Telefon klingelte und Jonas nur mit einem Handtuch bekleidet vom Bad ins Wohnzimmer ging. Keiner meiner bisherigen Freunde hatte in einem Handtuch eine solch gute Figur gemacht wie er. Mir fiel auch auf, wie die Wassertropfen von seinen Schultern perlten. Aber es waren eben Wassertropfen, die über Schultern perlten. Mehr nicht. Ich fand es ästhetisch und es war ein Bild, das ich so schnell nicht vergessen werde, und ja, vielleicht wäre es angenehm gewesen, meine Wange an seine feuchte Haut zu schmiegen. Aber wonach ich suche, ist mehr als nur angenehm. Ich suche etwas im Sinne von »Ich verliere den Verstand, wenn ich ihn berühre«, gleichzeitig will ich kompromisslose Geborgenheit und Sicherheit. Im Nachhinein muss ich gestehen, dass das bei keinem meiner bisherigen Partner der Fall war – und trotzdem war es anders als bei Jonas.
    »Manchmal sehen Außenstehende halt mehr als man selbst«, trotzt Johanna meiner Empörung

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