Vor uns die Nacht
einer heftigen Grippe anfühlt. Kein Facebook-Account – ob das ein Zeichen ist? Es gibt ihn nicht mehr, weder virtuell noch real? Hat er in irgendeiner kruden Vorahnung sein Profil gelöscht? Vielleicht sogar absichtlich den Tod gesucht? Nein, das ist nun wirklich zu weit hergeholt. Und wie Jonas schon sagte, die meisten Prügeleien enden harmlos.
Dennoch möchte ich wissen, ob es ihm gut geht. Er hat das immerhin für mich getan. Und es war eine Art Rettung und Vertreibung zugleich. Nicht einmal zusehen durfte ich ihm. Mädchen hat er mich genannt, erinnere ich mich. Der Typ ist zwei Jahre jünger als ich und nennt mich Mädchen? Und Jonas meine Gouvernante?
Kopfschüttelnd beschließe ich, dass es mir für jetzt und hier egal ist, ob er mit zertrümmerten Kronjuwelen in einer feuchten Gasse liegt und gepeinigt vor sich hinwinselt. Im Schlaf lässt es sich wunderbar vergessen und genau das will ich: nichts mehr von all dem wissen.
»Prost Neujahr, Ronia«, hauche ich mir zu, nachdem ich das Licht ausgeknipst habe, und obwohl es stockdunkel ist und die Morgensonne sich noch verborgen hält, spüre ich ein sanftes Strahlen hinter meinen geschlossenen Lidern, das erst verglimmt, als mein Bewusstsein langsam schwindet.
Gedankendämmerung
R onia! Ronia, da bist du ja … jetzt warte doch mal.«
Mit angehaltenem Atem bleibe ich, wo ich bin. Es macht wenig Sinn, am Buffet einer Studentencafeteria so zu tun, als gäbe es mich nicht, wenn – wie üblich an Freitagnachmittagen – fast niemand mehr an der Universität unterwegs ist. Ein Leuchtturm wäre nicht minder auffällig. Nach drei Stunden Recherche in der Bibliothek brauche ich dringend einen Teller Nudeln und bin dankbar, dass noch welche übrig sind, also flüchte ich nicht. Außerdem freue ich mich, Johannas Stimme zu hören, obwohl ich ahne, dass mir ein kleines Verhör bevorsteht.
»Moment, so geht das nicht, was machst du denn da?«, kichert sie und schiebt mir rasch einen Teller auf das Tablett, bevor ich die Kelle mit den Nudeln auskippe. Stimmt, ein Teller ist eine sinnvolle Sache, wenn man etwas essen möchte. Multitasking war noch nie meine Stärke.
»Bin gestresst«, entschuldige ich mich sowohl bei der mich kritisch musternden Johanna als auch bei der sichtlich irritierten Thekenkraft, bezahle und steuere den kleinen Ecktisch an, der zu normalen Zeiten fast immer besetzt ist. Doch Johanna und ich sind fast die einzigen Studenten. So still habe ich die Cafeteria noch nie erlebt. Allerdings war ich bislang auch noch nie freitagnachmittags auf dem Campus. Das ist selbst für mich ungewöhnlich.
»Wo warst du denn die ganze Zeit? Und was war mit Mittwoch, hast du uns vergessen?« Johanna klingt nicht vorwurfsvoll, sondern betrübt. Ersteres wäre mir lieber gewesen, dann hätte ich ein bisschen zicken können. So aber äuge ich betreten auf meine Nudeln.
»Wie gesagt, ich bin total gestresst. Viel zu tun hier.« Ich mache eine unbestimmte Armbewegung. »Ich muss meine Seminararbeit komplett umschreiben.« Das ist keine richtige Lüge. Aber auch nicht die volle Wahrheit. Ich selbst war diejenige gewesen, die für dieses Muss gesorgt hat, weil ich plötzlich der Meinung war, dass die Gliederung hätte optimaler sein können. Mein Dozent erwartet die Arbeit frühestens im März und selbst in der ersten Version wäre sie sicherlich eine gute Zwei geworden. Die Wahrheit ist, dass ich Expertin fürs intellektuelle Zeitschinden geworden bin.
»Vier Wochen lang? Auf den Saunaabend letzten Mittwoch hatten wir uns doch so gefreut. Was ist los mit dir?«
»Hatte meine Tage«, rechtfertige ich mich mit gesenkter Stimme. »Das nächste Mal bin ich wieder dabei.«
»Na gut, okay.« Johanna zieht einen Schmollmund, doch ihre Miene wird sofort wieder heiter. »Hättest trotzdem absagen können.«
»Ich hatte so Bauchschmerzen, dass es mir erst am nächsten Tag eingefallen ist. Und da bin ich hier schon wieder im Dreieck gesprungen.«
Gut, das sind Lügen, ohne Wenn und Aber. Weder hatte ich meine Tage gehabt noch es vergessen. Es ist nur so, dass wir nicht in die Sauna gehen, um zu saunieren, sondern um uns Müll von der Seele zu reden – Johanna, ich und unsere alten Schulfreundinnen Suse und Chiara. Psychohygiene. Früher habe ich es geliebt. Ich fühlte mich anschließend wirklich leichter. Es hatte etwas Verschworenes, im Halbdämmer zu schwitzen und kein Blatt vor den Mund zu nehmen, wenn es um Männer, Männer und noch mal Männer ging. Doch genau das
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