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Vor uns die Nacht

Vor uns die Nacht

Titel: Vor uns die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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doch sind meine Schritte sicherer und gleichmäßiger, als sie im Gehen je sein könnten. Ich weiß nicht mehr, ob ich das alles träume oder wach bin.
    Als vor mir, am Kamm der Brücke, ein Schatten aus dem Nebel auftaucht, glaube ich deshalb auch zuerst, einer Sinnestäuschung zu erliegen; ob Mann oder Frau, kann ich nicht erkennen. Aber es ist weder ein Jogger noch ein Radfahrer. Der Schemen bewegt sich langsam und gemächlich. Obwohl ich mich damit aus meinem Rhythmus bringe, zwinge ich mich, mein Tempo zu drosseln, und werde sofort bestraft. Ein beißender Schmerz fährt in meine Waden und meine Kehle ringt schnappend um Luft, als habe ich zu lange getaucht. Jetzt erst merke ich, dass ich schweißgebadet bin. Unaufhörlich rinnen salzige Tropfen meinen Nacken und meine Schläfen hinab, tropfen von meinem Kinn und aus meinen Haaren. Geistesabwesend fange ich einen davon mit meiner Zunge ab, ohne meine Augen von der Silhouette abzuwenden. Nähert sich da etwa wieder eine Gruppe lüsterner Männer, die mir an die Wäsche wollen, und die Gestalt ganz vorne ist der Anführer?
    Nein, so etwas passiert einem nicht zweimal hintereinander. Und jetzt? Stehen bleiben? Aber genau das war in der Silvesternacht verkehrt gewesen, es hatte mich verraten. Ich muss weiterlaufen, als würde mich das nicht kümmern. Es ist Freitagabend kurz nach Sonnenuntergang und ich jogge. Kein Grund durchzudrehen, nur weil mir jemand entgegenkommt. Wenn ich weiterhin joggen gehen möchte, werden mir noch viele Menschen entgegenkommen.
    Aber warum habe ich das Gefühl, alleine auf der Welt zu sein – alleine mit diesem Schemen vor mir, von dem ich nicht einmal weiß, ob es ein Mann oder eine Frau ist?
    Im Laufen schärfe ich meinen Blick. Es ist nur eine Person – und es ist ein Mann. Kein Zweifel. Seine Bewegungen kommen mir zutiefst vertraut vor, so vertraut, als würde ich jeden Abend vor dem Einschlafen einen Film sehen, der nichts anderes zeigt als ihn, wie er einen Fuß vor den anderen setzt. Die Kamera fängt ihn von hinten ein, von vorne, von der Seite, von weit oben aus der Vogelperspektive. Er müsste Flügel haben, denke ich entrückt, er müsste Flügel haben, auf die Brüstung der Brücke springen und davonschweben.
    Nun ist er es, der stehen bleibt. Er wartet – und ich bin es, die ihm entgegenläuft. Es fühlt sich richtig an, wie alles in diesem Augenblick, selbst der Nebel fühlt sich richtig an und mein stoßweise keuchender Atem, in dem meine Stimme mitschwingt. Ich kann es nicht mehr kontrollieren.
    Als uns nur noch zwei Armlängen trennen, bleibe auch ich stehen und hebe meinen Blick. Er schaut knapp an mir vorbei, kühl und distanziert, doch ich spüre, dass er mich erkennt, nicht mit dem Kopf, sondern mit dem Bauch. Ich rege mich nicht, möchte diesen Moment auskosten und mein Körper scheint singend zu vibrieren, als der Nebel sich in erquickender Kälte auf meine erhitzte Haut legt. Ich bade in Salzwasser und den Tränen des Himmels. Sie waschen mich rein. Jans Gesicht verschwimmt im Dunst und ich strecke instinktiv meine Hand aus, als könne ich die Nebel zwischen uns damit zerstreuen. Ich möchte ihm in die Augen sehen. Ohne Schleier.
    »Du schwitzt«, dringt seine Stimme durch das matte graue Dämmerlicht. Er meint nicht nur das. Es ist auch keine anklagende Feststellung. Er mag es. Und deshalb antworte ich nicht. Ich werde mich weder erklären noch verteidigen. »Was suchst du hier?«
    »Dich«, sagt mein Herz, sage ich, und halte still, als er einen Schritt auf mich zugeht, sich vorbeugt und seine Zunge sacht über meine schweißnasse Wange gleiten lässt. Fast im gleichen Moment ertönt hinter ihm ein so aggressives, bösartiges Knurren, dass ich brutal in die Realität zurückgerissen werde und ihm eine Ohrfeige verpasse, die sich gewaschen hat.
    Als würde mein Schlag mich wecken, übernimmt mein Kopf sein altvertrautes Kommando und befiehlt mir zu fliehen. Blitzschnell drehe ich mich um und beginne zu rennen, ohne einen Blick zurück, denn ich will nur das in Erinnerung behalten, was vor meiner Ohrfeige geschehen ist. Jenes weiche, vertraute Sehnen, das mich gleichzeitig in Flammen stehen ließ.
    Erst als ich den Pfad zurück zur Promenade erreicht habe und mir sicher bin, dass mir niemand folgt, klammere ich mich an einen dünnen Baum und muss mich in einem jäh aufwallenden Würgen nach vorne beugen, das aber so rasch wieder verebbt, wie es gekommen ist. Meinem Magen gefällt überhaupt nicht, was ich hier

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