Vor uns die Nacht
grauhaariger Läufer entgegen, der ausgerüstet ist, als würde er für den nächsten New-York-Marathon trainieren: Funktionsklamotten von Kopf bis Fuß inklusive Reflektoren und umgehängter Trinkflasche mit Röhrchen zum Mund, sodass er seinen ambitionierten Run nicht eine Sekunde unterbrechen muss, um gegen seine Dehydrierung anzugehen. Gegensätzlicher könnte unsere Aufmachung nicht sein, doch er nickt mir kollegial und mit angemessenem Ernst – wir sind ja nicht zum Vergnügen hier – zu, bevor er gleichmäßigen Schrittes an mir vorüberzieht. In seinen Ohren stecken i-Pod-Stöpsel, sodass er dankenswerterweise nicht gehört hat, dass mein Atem klingt, als würde ich kurz vor den Presswehen stehen. Schon in der Stadt musste ich immer wieder kleine Gehpausen einlegen, da mein Lungenvolumen dem eines Eichhörnchens zu ähneln scheint. Jetzt fühlen sich auch die Muskeln in Oberschenkeln und Waden steinhart und verkrampft an – morgen werde ich mich kaum mehr rühren können und jede einzelne Bewegung verfluchen.
Körperlich bin ich bereits seit dem Dompark über meinen Grenzen, doch nun, da ich den Fluss erreicht habe, wird in mir eine Stimme wach, die sich jenseits der Gesetze von Lungenvolumen und muskulärer Sauerstoffversorgung bewegt und mich unaufhörlich nach vorne treibt. Mein Kopf hat nichts mehr mitzureden, obwohl es eine stolze Riege an Gründen gibt, die mich schleunigst umkehren lassen sollten: Es ist niemand unterwegs außer mir, Nebel zieht auf, bald wird es dunkel sein, ich schwitze und die Temperaturen sind zu niedrig für meine dünne Trainingshose und meine zwei Sweatshirts, Jonas wartet, Johanna wartet, ich müsste mich für die Party fertig machen …
Und doch laufe ich weiter, keuchend und abgehackt, bis sich eine Weichheit und ein Unwirklichkeitsgefühl über meine Erschöpfung legt, die ich schon aus den Langstreckenläufen in der Schule kenne und die mich damals sogar einige dieser Läufe gewinnen ließen, weil es mir gelang, auch von den hinteren Plätzen nach vorne aufzuschließen. Die Schmerzen sind noch da, meine Lunge brennt, als würde ich Feuer einatmen, doch ich muss meine Beine nicht mehr antreiben. Sie laufen von alleine, ohne mein Zutun, in meinem und mit meinem Schmerz, und meine Seele wird in dieser glühenden Pein leicht und frei, drängt unweigerlich nach vorne, dem Nebel entgegen, der nach und nach alles Vertraute verschluckt.
Als ich das Ende des Spazierwegs erreicht habe und eigentlich nur noch Richtung Stadt umdrehen kann, erscheint es mir falsch, stehen zu bleiben. Ich habe gerade meinen Atemrhythmus gefunden und mich den Schmerzen ergeben, wenn ich jetzt Stopp mache, werde ich aus dem Takt fallen. Ich muss weiterlaufen, auch wenn ich so weit eigentlich gar nicht hatte gehen wollen.
Gab es da nicht einen Pfad zur Brücke, den Johanna und ich auf einer unserer kindlichen Erkundungstouren einst entdeckt haben? Irgendwo rechts von mir? Wenn ich weiter geradeaus laufe, am alten Pier vorbei und über das Wiesenstück, gerate ich genau in die Gegend, die ich meiden wollte – dort, wo alles Gefährliche und Unberechenbare lauert, und meine Erinnerungen.
Aber die Brücke führt auf die andere Seite des Stroms, zu den Auwäldern und den alten Flussarmen, wo im Sommer die Stechmückenlarven brüten und Frösche quaken und sich bei Niedrigwasser lang gezogene Kiesstrände eröffnen. Links entlang führt ein Radweg, über den man auch laufen könnte, selbst wenn er dazu nicht gemacht wurde, denn niemand kommt auf die Idee, zu Fuß auf die andere Seite zu gehen.
Ja, da ist der alte, verwachsene Pfad, ich habe ihn gefunden – er sieht fast genauso aus wie früher. Der Nebel dämpft das Geräusch meiner Schritte, als ich mich durch das Dickicht kämpfe und tief hängenden Ästen ausweiche, bis plötzlich die Brücke vor mir auftaucht. Ohne darüber nachzudenken, nehme ich die wenigen Stufen zum Radweg und trabe der anderen Seite entgehen, im Bewusstsein, dass jeder Meter, den ich zurücklege, meinen Heimweg verlängern und zu einer Qual für Muskeln und Sehnen werden lassen wird.
Der Asphalt unter mir vibriert, wenn ein Auto an mir vorbeirauscht, und ich versuche zu ignorieren, dass sich links neben mir nur ein Geländer befindet und darunter der Fluss, denn schon jetzt hat sich das Schwindelgefühl in meinem Kopf zu einem hypnotischen Rauschen gesteigert, das mir das Gefühl verleiht, mich selbst nicht mehr steuern zu können. Ich laufe nicht, ich werde gelaufen, und
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