Vor uns die Nacht
ist mein Problem. Männer sind aus meinem Leben gestrichen und über meine Männer der Vergangenheit will ich kein Wort mehr verlieren. Es ist ein Punkt erreicht, an dem es nicht mehr befreiend ist, darüber zu sprechen.
»Bist du immer noch traurig wegen Lukas? Ziehst du dich deshalb so zurück? Man sieht dich gar nicht mehr.«
»Nein«, antworte ich etwas zu barsch und schicke ein versöhnliches Lächeln hinterher. »Nein, das hab ich weggesteckt. Ich hatte wirklich viel Stress.«
Ab wie vielen Lügen kommt man eigentlich in die Hölle? Selbstverständlich ist Lukas der Grund, warum man mich nicht mehr sieht – jedoch nicht, weil er mich verlassen hat, sondern wegen seiner Läster-Zugabe. Ich habe nicht die geringste Ahnung, welche Kreise seine Eröffnung inzwischen gezogen hat. Kann sein, dass seine Kumpels sich für Lukas’ Geschwätz gar nicht richtig interessiert haben und den Mund halten. Oder dass sie so betrunken waren, dass sie am nächsten Tag sowieso nichts mehr davon wussten. Aber es ist auch möglich, dass darüber geredet wurde, und ich möchte mich so lange zurückziehen, bis ich mir sicher bin, damit umgehen zu können. Selbst auf Facebook habe ich mich nicht mehr blicken lassen.
Bis zum Tag X, an dem ich morgens aufwache und weiß, dass es ausgestanden ist, warte ich ab und tu so, als wäre alles okay. Standardbegründung: Stress an der Uni. Meinen Eltern gegenüber klappt das ja auch. Ich komme trotzdem wie immer samstagmittags zum Kaffee und sonntags zum Mittagessen. In diesen Stunden spielen wir mit vereinten Kräften das große Verdrängen. Denn über den Vorfall am Helfertreffen hat Vater die große Pastorenrobe des Schweigens geworfen – wir tun alle so, als habe es diese Szene niemals gegeben. Zudem wissen Mama und Vater nichts von meinen Silvesterkatastrophen. Sie denken, ich habe wie jedes Jahr einen schönen Abend mit Johanna verbracht. Über meine Beinahe-Vergewaltigung habe ich noch immer mit niemandem geredet und ich habe auch nicht vor, das zu ändern. Es ist okay, wie es ist. Wenn meine Gedanken nicht ständig zu Jan driften und sich augenblicklich in eine merkwürdige Art von bewundernder Sorge verwandeln würden, hätte ich diese Vorkommnisse vielleicht sogar schon in die Mottenkiste der Erinnerungen packen und diese in die hinterste Ecke des gedanklichen Speichers schieben können. Leider habe ich ein furchtbar gutes Gedächtnis und es holt mich spätestens im Traum in das Geschehen dieser Nacht zurück.
Ich kann nicht sagen, wie oft ich in den vergangenen Nächten wieder dort stand und dabei zusah, wie Jan sich gegen die Typen zur Wehr setzt. Jedes Mal möchte ich zu ihm laufen und ihm helfen, aber ich bin wie gelähmt. Ich kann weder schreien noch mich bewegen. Doch im letzten Traum kam ihm eine Horde geifernder Hunde zu Hilfe … Hunde? Warum Hunde?
»… heute Abend kommst du doch mit, oder?«
»Was?«, frage ich konsterniert. Wie immer, wenn ich an Jan denke, scheint die Gegenwart zu entschweben. Ich hasse diese Macht, die er über mich hat – und wenn es nur in meinen Erinnerungen ist.
»Heute Abend, Chiaras Einweihungsparty – das haben wir doch schon im Dezember ausgemacht.« Johanna schüttelt den Kopf. »Du brauchst echt mal eine Pause vom Lernen, Ronia. Jetzt sag bloß nicht, du hast es dir anders überlegt.«
»Doch, ich komme nach. Ich muss noch – nein, ich will noch laufen gehen. – Joggen«, ergänze ich erklärend, als Johanna mich verständnislos anschaut.
»Joggen? Du? Alleine?«
»Ja, warum denn nicht?«, entgegne ich leicht beleidigt. Ich weiß nicht, ob Johanna sich daran erinnert, aber im Langstreckenlaufen war ich nie schlecht gewesen. Das hatte mich jedoch nicht davon abgehalten, bei jedem Training lautstark über diese meines Erachtens vollkommen perverse Form der Sportlehrer-Folter zu lästern. Ich habe lange überlegt, wie ich meinen Neujahrsvorsatz verwirkliche. Fitnessstudio ist mir zu teuer, mit Jonas squashen zu stressig und ein Selbstverteidigungskurs erst der zweite Schritt. Zumba trau ich mir nicht zu, Schwimmen ist zu langweilig.
Nein, ich werde laufen gehen, unten an der Flusspromenade, wo immer Spaziergänger und Jogger unterwegs sind. Ich werde alleine und doch in Gesellschaft sein und ich kann mich darauf verlassen, Lukas nicht zu begegnen. Meine Versuche, ihn zu einem gemeinsamen Spaziergang am Fluss zu überreden – was für mich stets der Inbegriff der Romantik gewesen war –, schlugen allesamt fehl; er legte lieber
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