Vor uns die Nacht
tue, und nun sitzen die Schmerzen auch in meiner Hüfte und meinen Lendenwirbeln. Doch irgendetwas in mir ist so euphorisch, dass ich trotz meines Schreckens mein kurzes Glück in die Welt hinausbrüllen möchte. Glück? Ronia, reiß dich zusammen, versuche ich mich zu zügeln, dieser Mistkerl hat dich abgeleckt …
Nein, das hat er nicht, das war kein Ablecken, das war – ja, was war es denn nun? Respektlos ist er gewesen, das steht außer Frage, so etwas tut man nicht, aber ich hab es zugelassen, oh, nicht nur das – ich habe es gewollt. Ohne es zu wissen. Ich wusste es erst in dem Moment, als es geschah. Immerhin, er hat seine Revanche bekommen. Ich hab ihm eine geknallt. Leider bin ich mir ziemlich sicher, dass er das lediglich lustig fand. Er ist meinem Schlag ja nicht mal ausgewichen.
Und was, bitte, habe ich kurz vorher für einen Bullshit zum Besten gegeben? Dass ich ihn suche? Oh, verflucht. Meine Euphorie verpufft und die eisige Kälte auf meinem verschwitzten Rücken spornt mich dazu an, mich wieder in Bewegung zu setzen, um endlich unter eine heiße Dusche zu kommen. Ich hole mir den Tod, wenn ich weiter im Nebel stehen bleibe.
Habe ich das denn wirklich gesagt? Oder nur gedacht? Dass ich ihn suche? Ich habe ihn nicht gesucht. Ich wollte nur laufen gehen. Es ist nicht wahr, was ich da gedacht oder gesagt habe. Aber in diesem Augenblick war es die einzige Antwort, die meine Seele zugelassen hat. Es gab keine andere. Es war wieder da gewesen, ohne einen Cocktail oder zermürbenden Kummer – dieses weite Reich in meinem Herzen, das sich dann zu öffnen beginnt, wenn er vor mir steht. Es überträgt sich auf meinen ganzen Körper und mein Kopf wird zum Nebenschauplatz – ist es etwa das, was Wissenschaftler meinen, wenn sie davon reden, dass Anziehungskraft zwischen Mann und Frau nicht mehr als eine hormonelle Wechselwirkung ist? Denn ich wollte nicht mit ihm sprechen oder gemeinsam ins Museum gehen oder über Philosophie diskutieren. Ich wollte ihn spüren.
Zu Hause brauche ich drei Anläufe, bis ich es schaffe, auch mein Gesicht und meine Haare unter den Duschstrahl zu halten, denn es schmerzt mich fast körperlich, Jans Berührung von meiner Wange zu waschen. Wieder kommt mir alles so unwirklich vor, unsere wenigen Worte, mein Blick, die sich bewegenden Nebelschwaden. Gab es dieses stille Einverständnis und die tief empfundene Nähe zwischen uns wirklich oder ist dieses Gefühl nur im Rausch meiner Endorphine entstanden?
Als ich aus der Dusche trete, krampft auch mein Bauch und ich fühle mich so elend, dass ich mich für ein paar Minuten flach auf den flauschigen Badezimmerteppich lege. Ich sollte etwas trinken. Mir die Waden mit einer von Jonas’ wärmenden oder kühlenden Sportsalben einreiben. Die Party bei Chiara streiche ich, das schaffe ich nicht und ich will es auch nicht. Ich habe Angst, dass sich verflüchtigt, was auf der Brücke geschehen ist, es waren schließlich nur wenige Sekunden gewesen und ich weiß nicht einmal, was real war und was nicht – doch ich will sie bewahren.
Ich möchte seine Stimme wieder hören. Er soll noch mehr zu mir sagen. Was es ist, ist mir beinahe egal, doch es soll mich meinen und ich will dabei spüren, dass er mich begehrt. Am besten jedoch sagt er gar nichts. Wir bleiben wortlos.
Ja, in meinen Fantasien bleiben wir wortlos.
Die ganze Nacht, in der ich wach und mit schmerzenden Muskeln in meinem Bett liege, die Hand auf meiner Wange, sagen wir kein einziges Wort.
Alles, was die Engel dieser Nacht hören, ist das Schlagen unserer Herzen.
Goldschimmer
N icht schon wieder … und vor allem nicht jetzt«, knurre ich unwirsch, als mein Handy heute früh gefühlt zum hundertsten Mal klingelt. Doch nach einigen Sekunden siegt meine Neugier. Mit der Rasierklinge in der Hand und einem schaumbedeckten Bein hüpfe ich barfuß und so gut wie nackt durch den Flur zur Kommode, wo mein Samsung gerade neuen Saft bekommt. Wer wird es jetzt sein? Wieder Johanna? Jonas? Chiara, die immer noch sauer ist, weil ich ihre Party verpasst habe? Meine Eltern, bei denen ich in der Zeit vor Ostern alle Jahre wieder ein tägliches Anruf-Abo habe, weil es immer irgendetwas zu tun gibt, wobei sie mich »dringend« brauchen?
Nein. Keiner der üblichen Verdächtigen. Diese Nummer kenne ich nicht, doch sie hat eine Heidelberger Vorwahl. Jemand von der Uni? Habe ich irgendwelche Fristen verpasst? Oder meine Seminaranmeldungen verschwitzt?
Mit einem unguten Gefühl melde ich
Weitere Kostenlose Bücher