Vor uns die Nacht
mich.
»Frau Leonhard? Kai Schuster hier, bitte entschuldigen Sie, dass ich Sie privat störe, Ihre Mutter hat mir Ihre Mobilnummer gegeben, denn es ist dringend.«
Oh. Kai Schuster – das ist mein Dozent aus der späten vorchristlichen Zeit, Schwerpunkt Frankreich; Römer und Gallien. Vergangenes Jahr habe ich bei ihm eine glatte Eins geschrieben und unter seiner Leitung erfolgreich ein Ausgrabungspraktikum absolviert (meine erste Vasenscherbe), also kein Grund für irgendwelche Beschwerden – was will er von mir?
»Hallo, Herr Schuster«, entgegne ich lahm und verspüre das dringliche Bedürfnis, mir eine Hose anzuziehen und meinen Ladyshaver in einem hohen Bogen von mir zu werfen. Stattdessen lege ich ihn auf das Telefonbuch, als handele es sich um eine geladene Waffe, und versuche, den herunterlaufenden Rasierschaum an meinem linken Bein zu ignorieren. Es ist generell idiotisch, sich fürs Joggen die Beine zu rasieren, aber von einem Unidozenten dabei erwischt zu werden, fühlt sich beinahe unanständig an.
»Störe ich gerade?«, scheint Herr Schuster meine wild umherspringenden Gedanken zu wittern.
»Nein, alles gut, Sie stören nicht. Was gibt es denn?«, frage ich, obwohl mir eher nach »Was habe ich verbrochen?« zumute ist.
»Forschungssemester an der Saône, ab Mitte August zwei Monate und dann im Frühjahr wieder zwei Monate – ein gerade entdecktes gallisches Oppidum samt Müllgrube und römischen Spuren. Wir haben beides in einem, Römer und Gallier! Ist das nicht sensationell?«
Kai Schuster wird von seinen Studenten und Kollegen auch liebevoll Idefix genannt. Jetzt weiß ich wieder, warum. Alleine das Wort Gallien zaubert ein Leuchten auf sein Gesicht und sein halbes Leben besteht darin, von gallischen Müllgruben zu schwärmen. Für Archäologen mit Gallier-Fetisch sind Müllgruben so etwas wie der siebte Himmel, da sie allerbeste Rückschlüsse auf den Alltag dieses sagenumwobenen Volkes bieten. Seine Euphorie schwappt bis zu mir in den dämmrigen Altbauflur und ich muss automatisch mit ihm lächeln.
»Das freut mich für Sie«, entgegne ich verständnisvoll, »aber warum … ja, warum …?« Unsicher stocke ich, doch meine Frage ist angebracht – warum erzählt er mir das eigentlich? Wir haben uns zwar gut verstanden, eben so, wie sich Studentin und Dozent verstehen können, aber er wird doch nicht …
»Weil Sie dabei sein sollen, Ronia. Ich darf Ronia sagen, oder? Wenn wir zusammen im Dreck wühlen, duzen wir uns sowieso, spätestens ab der zweiten Woche. Rückenschmerzen und Sonnenbrand verbinden wie kaum etwas anderes, das wissen Sie doch!«
Verwirrt halte ich inne, während der Schaum zu einem See wird und mein blanker Hintern arktisch.
»Dabei sein?«, hake ich ungläubig nach.
»Wir dürfen mit fünf Studenten anreisen, die anderen werden von Frankreichs Universitäten gestellt, und Ronia, ich möchte Sie dabei haben. Keiner unserer Studenten arbeitet so konzentriert und systematisch wie Sie, das wurde mir auch vom Landesamt für Denkmalpflege bestätigt. Ich bestehe darauf, keine Widerrede! Sie kriegen diesen Aufenthalt natürlich angerechnet, es wird die beste Basis für Ihren Master sein und Sie machen doch den Master, oder? Ronia, sind Sie noch dran?«
»Ja, ich … meinen Sie das ernst? Ich darf – ich soll mit nach Frankreich?« Jetzt ist mir mein nackter Hintern gleichgültig. Hier geht gerade ein heimlicher Traum in Erfüllung. Kai Schuster will mit mir und anderen Studenten ein Oppidum ausgraben? Insgesamt vier Monate? Weit weg von dieser spießigen Kleinstadt? Das ist ein Sechser im Lotto!
»Sie müssten lediglich für die Unterkunft und einen Teil der Versorgung aufkommen, die Reisekosten übernimmt die Uni. Bitte überlegen Sie es sich. Ich reserviere Ihren Platz und Sie denken darüber nach, versprochen? Ronia, ich muss weiter, ich habe noch eine Prüfung abzunehmen. Geben Sie mir so bald wie möglich Bescheid, ja? Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende! Wiederhören!«
Eine Weile bleibe ich wie eine Statue stehen, das Handy noch in meiner Rechten, und lasse seine Worte in mir nachklingen, unsortiert und in einem kunterbunten Tanz, der erst nach und nach ein Bild ergibt. Doch dieses Bild hat Schwachstellen. Vier Monate fort von hier. Kosten für Unterkunft und Verpflegung notwendig, also schätzungsweise 400 Euro im Monat. Mindestens. Ich wusste, dass die Sache einen Haken hat. Denn wie soll ich dieses Geld nur aufbringen? Aber sein Angebot ist der
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