Vor uns die Nacht
Fingerzeig vom Schicksal, den ich dringend brauche, nachdem ich heute am liebsten vor mir selbst geflüchtet wäre.
Denn mein Leben ist in Langeweile erstickt seit Jans Leckattacke, von der ich immer noch nicht genau weiß, ob er dafür eine Ohrfeige oder einen Kuss verdient hat. Überhaupt konnte ich die neblige Magie unserer Begegnung nur für wenige selige Stunden mithilfe jener schwül-erotischen Fantasien konservieren, in deren zweifelhaften Welten ich mir die kurze Nacht vertrieb. Beim Vogelzwitschern suchten mich stechende Kopfschmerzen in Schläfen und Nacken heim, die sämtliche halbseidenen Kurzfilme gnadenlos verjagten. Das Aspirin jedoch, das ich mit wenigen Schlucken runterspülte, entfaltete eine durchschlagende Wirkung, sodass Jonas mich leichenblass, zittrig und mit einer Wärmeflasche auf dem Bauch im Wohnzimmer vorfand, als er von seiner Nachtschicht nach Hause kam.
Nach einer Palette gezielter Fragen seinerseits und widerwilliger Antworten meinerseits stellte sich heraus, dass ich nicht etwa krank war, sondern hoffnungslos übersäuert und dehydriert, was sich aber mindestens genauso schlimm anfühlt, wie schwer krank zu sein, und mir eine Lehre war. Genauso wie der wenige Stunden später einsetzende folterähnliche Muskelkater. Jonas und Johanna wurden nicht müde, sich daran zu ergötzen, dass ich weder in der Lage war, in einem für gesunde Erwachsene angemessenem Tempo eine Treppe zu gehen, noch mich ohne Schmerzenslaut zu setzen und wieder aufzustehen. Mit zarten einundzwanzig machte ich Omageräusche und das nach einer Runde Joggen. Gut, es war eine große Runde. Und ich hatte dabei einen Endorphinrausch, der vermutlich mit der Wirkung von harten Drogen mithalten konnte.
Doch trotz aller Pein blieb das leise Lächeln in mir, das die Begegnung mit Jan ausgelöst hatte – und bekam immer wieder Gesellschaft von bohrender Unsicherheit. Wie hat er das eigentlich gemeint? Wie kann man so etwas überhaupt meinen? Er wollte mich damit nicht erniedrigen, oder? Das würde keinen Sinn ergeben – mich erst vor einer Vergewaltigung retten und dann selbst zudringlich werden. Es hatte sich auch nicht zudringlich angefühlt. Nein, wenn ich daran denke, flimmert mein Bauch, als habe jemand eine Kerze darin entzündet. Diese innere Wärme war nie richtig weg und flackerte sogar manchmal auf, ohne dass ich bewusst eine Erinnerung an diesen Abend hervorholte.
Also rappelte ich mich nach meiner Genesung wieder auf und ging erneut laufen, dieses Mal marginal besser ausgerüstet, zur gleichen Zeit am gleichen Tag am gleichen Ort. Der Freitagnachmittag hat sich als ideal erwiesen. Auf Facebook und WhatsApp wird es spätestens ab 16 Uhr totenstill, meine Eltern bereiten in ihrem üblichen Wahnsinn das Kirchenwochenende vor, Jonas spielt Squash oder schiebt Dienst, im Fernsehen läuft nur Mist – die beste Zeit, ein paar Runden zu drehen, in der stillen Hoffnung, dass Jan mir wieder unten am Fluss begegnete.
Denn es kann kein Zufall gewesen sein, dass er über die Brücke gelaufen war, redete ich mir vehement ein. So etwas plant man, aus welchen Gründen auch immer, und ich baute darauf, dass einer der Gründe lautete, dass er gerne auf der anderen Flussseite spazieren ging. Selbst wenn das nicht zu dem passte, was Jonas mir über ihn erzählt hatte. Ein drogenkonsumierender Callboy, der Prügeleien und Mädchenärgern zu seinen Lieblingshobbys zählt, geht nicht in der Natur spazieren. Es ist sogar eher möglich, dass er drüben im Dickicht des Auwaldes Stoff vertickert. Ein ungewöhnlicher Umsatzplatz, sicher, aber im Bereich des Denkbaren.
Letztlich aber musste ich all diese Theorien verwerfen, denn ich traf ihn nicht mehr. Drei Freitage hintereinander ging ich laufen, vergangene Woche das erste Mal ohne anschließende Wadenkrämpfe und Verdauungsstörungen, und trotz eines fiesen grippalen Infekts, der mich anderthalb Wochen flachlegte, bilde ich mir ein, dass ich weniger außer Atem gerate, wenn ich die vielen Stufen zum großen Vorlesungssaal nehme. Aber Jan bin ich nicht mehr begegnet.
Trotzdem will ich heute laufen gehen, denn ich habe mich bis zu meinem Beschluss selbst kaum ausgehalten. Ich muss mich abreagieren. Der Anruf von Idefix ist da nur Öl ins Feuer. Er erfordert eine klare Entscheidung und eigentlich ist sie längst gefallen. Die Schwierigkeit wird darin bestehen, sie zu verwirklichen. Ich will nach Frankreich. Ausgrabungen sind das allerbeste Mittel, um stromernde Straßenjungs mit
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