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Vor uns die Nacht

Vor uns die Nacht

Titel: Vor uns die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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sie aufgelegt. »Wenn du schon heute nicht kommst.« Jetzt muss ich wirklich laufen gehen, sonst demoliere ich die Wohnung. Das darf nicht ihr letztes Wort bleiben. Auf keinen Fall. Und falls doch, dann rufe ich eben im Landesamt für Denkmalschutz an und frage, ob sie Arbeit für mich haben, selbst wenn es bedeutet, dass ich Akten von A nach B schleppe wie im ersten Semester. Aber wird unten an der Filzfabrik nicht die Straße aufgerissen? Vor zweitausend Jahren wimmelte es hier von Römern, sie finden immer etwas, wenn sie bauen oder Kanalarbeiten machen – es wird nur eine Frage der Zeit sein, bis sie Studenten brauchen, die sich darum kümmern. Irgendetwas wird sich ergeben. Es muss!
    Unbehaglich schüttele ich meine Waden aus, die nun in hautengen Lauftights stecken und in deren atmungsaktiver Umhüllung sich das rechte Bein komplett anders anfühlt als das linke. Ich hätte doch beide Oberschenkel rasieren sollen. Aber wenn ich nicht wieder in die Dunkelheit geraten will, muss ich aufbrechen. Dennoch hinterlasse ich auf dem AB im Landesamt für Denkmalschutz eine kurze Nachricht mit der Bitte um einen Job, bevor ich die WG verlasse und mich aus der Stadt hinausbewege.
    Trotz der sinkenden Abendtemperaturen kommt mir die Luft schwül vor und ich atme erleichtert auf, als ich den Park erreicht habe und die perlende Frische im Nacken spüre, die von den großen, alten Kastanien ausgeht, an deren Ästen sich schon das erste Grün zeigt. Die Luft riecht schwer nach aufkeimenden Blättern und süßer Frühlingserde, ein süchtig machendes Gemisch, das die Wut über die Reaktion meiner Mutter mit jedem neuen Inhalieren weiter in die Ferne rücken lässt. Meine Schritte tun ihr Übriges, langsam fange ich an, es zu genießen, dieses gleichmäßige Auf und Ab im Takt mit meinem Atem; zwei Schritte ein, vier aus, ein Tipp von Jonas, der Gold wert ist. So kann ich sogar das Seitenstechen wegpusten, das mich meistens auf der zweiten Hälfte der Strecke heimsucht.
    Am Pier hat gerade ein lang gezogener Flusskreuzer angelegt, dessen Reling in der Abendsonne golden aufglimmt, sodass ich mich im Zickzack durch die herausströmenden Passagiere arbeiten muss. Doch je weiter ich mich von der Promenade fortbewege, desto ruhiger und einsamer wird es um mich herum. Ein Frachter zieht dumpf tuckernd vorüber und mit seinen Bugwellen gesellt sich das herbe, fischige Aroma des Flusses zu dem süßen Erd- und Blütengeruch. Ich spüre die labende Kühle des Wassers bei jedem Atemzug. Es ist schön zu leben, denke ich spontan, als ich auf den Pfad hoch zur Brücke einbiege. Ja, es ist schön, endlich ist es wieder schön … Habe ich etwa den Moment erreicht – den so lange ersehnten Moment, in dem Lukas’ Worte mich nicht mehr tangieren? Kann ich wieder nach vorne blicken? Mich wieder zeigen? Ach, und selbst wenn sie mich weiter verfolgen – ich habe etwas, worauf ich mich freuen und konzentrieren kann, und ein fettes Lob habe ich gratis dazubekommen: »Keiner unserer Studenten arbeitet so konzentriert und systematisch wie Sie.« Bedeutet übersetzt: Ich bin die Beste! Ja, in diesem Bereich bin ich die Beste. Im Oppidum zählt nicht, was ich im Bett tue und lasse, meine Hände sind nur dazu da, ganz zart jene Schätze zu bergen, die uns den Blick in die Vergangenheit freigeben, auf all die verborgenen Wunder der Menschheit und des Menschseins.
    Schon bin ich auf der Brücke und breite im Laufen kurz meine Arme aus, weil ich die Frühlingsluft greifen möchte. Mir ist, als könne ich sie damit in mich aufnehmen und bewahren, meine Waffe gegen all die Widrigkeiten und den Kummer, der mich in meinem Leben noch erwarten wird, und ich bekomme eine leise Ahnung davon, was Vater meint, wenn er in seinen Predigten sagt, dass Gott allgegenwärtig ist. Auch wenn wir ihn nicht spüren und an ihm zweifeln. Er ist da. Ich glaube immer noch nicht an ihn, doch ich koste das überwältigende Gefühl aus, ein sinnvoller Teil des Kosmos zu sein – ob es Einbildung ist oder nicht, will ich heute nicht entscheiden.
    Auf der anderen Seite angelangt, nehme ich Tempo heraus und trabe locker dem Kiesstrand entgegen, der etwas breiter geworden ist als im Februar und vom matten Licht der untergehenden Sonne angestrahlt wird. Selbst die dunkelgrauen, sonst so stumpf wirkenden Steine scheinen zu funkeln und zu glitzern. Wieder zieht ein Frachter vorbei. Ich bleibe stehen, schließe die Augen und lausche in gespannter Vorfreude, bis seine Bugwellen an den

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