Vor uns die Nacht
Intensität, die meinen Bauch leidenschaftlich mit dem Reizdarmsyndrom sympathisieren lässt, und kaum etwas ist unerotischer als Durchfall. Beim ersten gemeinsamen Abendessen mit Lukas verschwand dieser zwei Mal aufs Örtchen, um danach mit Leidensmiene zu verkünden, dass er »Dünnschiss« habe, während ich gerade ein Stück Pizza in den Mund schob. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich mit aller Klarheit, dass ich mich umsonst von Kopf bis Fuß mit meiner teuren Bodybutter einbalsamiert hatte. Allein das Wort war der absolute Lustkiller. Hätte er etwas vornehmer Durchfall gesagt oder noch vornehmer Verdauungsstörungen, hätte es jedoch auch nichts daran ändern können. Die Bilder waren bereits in meinem Kopf – und sie waren vernichtend.
Deshalb habe ich seit dem Frühstück sicherheitshalber nichts mehr gegessen und auch auf die Magnesiumtabletten verzichtet, die ich mir sonst vor dem Laufen einverleibe, um mich nachts nicht wieder mit Wadenkrämpfen im Bett zu winden. Heute aber gilt: lieber Wadenkrämpfe als Bauchkrämpfe. Nach dem Laufen darf von mir aus alles passieren. Während des Laufens jedoch muss ich optisch und konditionell in Hochform sein.
Wegen meines Bauchgrummelns verzichtete ich außerdem auf meinen üblichen Freitagmorgen-Bibliotheksbesuch und ließ die Uni Uni sein, wodurch sich der Tag noch mehr in die Länge zog als ohnehin schon – bis ich den kühnen Entschluss fasste, bei meinen Eltern vorbeizuschauen und endlich diese leidige Sache mit dem Auslandssemester zu klären. Kai Schuster hat mich erst gestern wieder angerufen, um mit sanfter Strenge darauf hinzuweisen, dass er den Platz zwar noch einige Wochen reservieren könne, aber ich aus Fairness den anderen Studenten gegenüber bitte zeitig eine verbindliche Entscheidung treffen solle. Ich beeilte mich, ihm zu versichern, dass mir alles an diesem Projekt liege, ich aber noch »einige Dinge« abklären müsse und das so schnell wie möglich tun werde.
Vom Landesamt für Denkmalschutz habe ich keine Rückmeldung bekommen, also kein Job in Aussicht, und um noch einmal bei der Domschenke als Bedienung anzufragen, fehlt mir nach meinem Zaziki-Unfall vor zwei Jahren der Mut. Ich werde niemals den Anblick der Dame in Schwarz vergessen, die über und über mit weißem Quark besprenkelt war, nachdem ich über meine eigenen Füße gestolpert und die Zaziki-Schüssel mir voraus durch die gesamte Gaststätte geflogen war, um wie in Zeitlupe an der Tischkante zu zerschellen und ihr Innerstes großflächig auf die Gäste einer Trauerfeier zu verteilen. Spätestens zu diesem Zeitpunkt war mir klar geworden, dass ich in der Gastronomie nicht gut aufgehoben war.
Nun, in der Not frisst der Teufel bekanntlich Fliegen. Doch selbst wenn ich einen Job kriege, es wird nicht reichen. Die Unterkunftskosten sind höher, als ich dachte, und das Zimmer in Jonas’ Wohnung will ich nicht aufgeben. Ich brauche diese Fluchtburg. Im Kinderzimmer meines Elternhauses mit allen Sinnen von Jan zu träumen, ist unvorstellbar. Es grenzt direkt an ihr Schlafzimmer. Das hat mich schon immer gestört. Ich hatte das Gefühl, sie könnten mich durch die Wand beobachten und all meine heimlichen Gedanken erahnen. Also fällt für die Monate in Frankreich doppelte Miete an. Ich brauche die Unterstützung meiner Eltern, ohne geht es nicht.
Noch einmal vergewissere ich mich, dass es tatsächlich Jonas’ Auto und Johannas Fahrrad sind, die da einträchtig nebeneinanderstehen. Johanna und ich haben seit unserem Streit nicht mehr miteinander gesprochen, nur kurz eine Nachricht über Facebook geschickt, dass es uns beiden leidtut. Wie sehr sie von Herzen kam, weiß ich weder bei ihr noch bei mir selbst. Zu sehen, dass sie hier ist, verstärkt mein unbehagliches Gefühl, dass da eine Verschwörung im Gange ist. Eine verschnupfte Johanna in Kombination mit Jonas und meinen Eltern – dieses Haus ist gerade voller Sittenwächter.
Aber ich muss das jetzt hinter mich bringen. Falls ich Jan heute Abend nicht treffe, habe ich wenigstens einen wichtigen Schritt getan – und mit Glück etwas erreicht, worauf ich mich freuen kann. Ja, ich hatte nicht mehr so viel von ihm träumen und mich in keinen Fantasien verlieren wollen, aber je weiter die Woche voranschritt, desto schwerer fiel es mir und desto höher wurde meine Anspannung. Ich brauche Zerstreuung.
Unsicher hebe ich die Hand und will gerade den Schlüssel ins Schloss der Haustür schieben, als sie sich wie von Geisterhand öffnet und
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