Vor uns die Nacht
Riesenrad gewesen, einfallslos und infantil, aber wirksam. Wem das Fahren in einem Riesenrad gleichgültig geworden ist, liegt bereits im Grab.
Doch jetzt ist das Riesenrad endgültig ins emotionale Kinderzimmer verbannt. Ich möchte hoch auf die Brücke und von oben auf die Stadt und den Fluss schauen, ich brauche Luft und Raum um mich und den kalten, klaren Sternenhimmel über mir. Jan brauche ich dazu nicht. Doch er wird mir folgen.
Nur sein lang gestreckter, zuckender Schatten, der im Schein der Brückenlaternen näher kommt und sich wieder zurückzieht, verrät mir, dass er hinter mir bleibt, mehr beobachtend als verfolgend, vielleicht auch schlichtweg magnetisiert von meiner stummen, egoistischen Entschlossenheit. Kaum ein Auto fährt an uns vorüber. So ruhig und verlassen habe ich diesen Weg noch nie erlebt, und als ich den Scheitelpunkt der Brücke erreicht habe und mich gefährlich weit über die Brüstung lehne, um hinunter in den Fluss zu schauen, werden selbst die dröhnenden Bässe des Brunnenfestes von einem sachten, nach Blüten duftenden Wind fort vom Wasser in die Stadt geweht. Um uns herum wird es still – so still, dass ich seinen Atem hören kann.
Nicht etwa eine mangelnde Kondition macht ihm zu schaffen. Seine Schritte klingen leicht und behände. Ich bin es, die ihn außer Atem bringt. Doch noch lasse ich meine Augen auf dem Fluss ruhen, als wäre Jan gar nicht hier. Matt schimmernd zieht der Strom unter mir vorbei. Ich schaue so lange hinein, bis ein angenehmes Schwindelgefühl meinen Kopf erfüllt und meine letzten klaren Gedanken vertreibt. Eine andere, reinere Klarheit nimmt von mir Besitz, die keine Vorschriftsmaßnahmen, Benimmregeln und Moralvorstellungen kennt. Sie fühlt sich unschuldig an. Und das bin ich auch. Unschuldig. Es ist nichts Böses an dem, was wir miteinander tun.
Wie vorhin schon werde ich mir meiner weichen Bewegungen bewusst, als ich mich vom Geländer löse und ihm zwei, drei genussvoll langsame Schritte entgegengehe. Ich ziehe keine Show ab. Keine meiner Regungen ist eintrainiert oder affektiert. Das hier bin ich. Mein schmaler Schatten, die Zartheit meiner Haut, meine riesigen Augen, die selbst im Dunkeln grünlich glimmen. Ich weiß nicht, ob ich mir je näher war als in diesem Moment und mich je aufrechter gehalten habe. Es fällt mir ganz leicht und mein Herz lacht dabei, leise und zufrieden. Nun geht auch mein Atem schwerer – aber selbst das genieße ich.
Ohne jede Pose bleibe ich stehen, warte nur ab, was geschieht. Er ist am Zug und er spielt mit. Seine Sohlen klacken kaum hörbar auf dem Asphalt des schmalen Radwegs, als er sich mir bis auf wenige Zentimeter nähert. Unsere Stirnen berühren sich nicht, nur eine seiner Haarsträhnen streift knisternd meine Schläfe. Wieder kitzelt der verfliegende Hauch seines dunklen orientalischen Parfums meine Nase, doch dieses Mal bleibe ich im Licht, fliehe nicht, sondern lasse es zu, wie mich eine unsichtbare, behutsame Welle nach vorne drängt, seiner Haut entgegen und seinem leicht geöffneten Mund, ohne dass unsere Hände nacheinander greifen. Sein Atem brandet gewaltvoll durch seine Brust und erzählt mir, was er sich wünscht und wonach er sich sehnt, aber noch will er mich nicht darum bitten. Er will, dass ich es entscheide. Mit weichem Blick sehe ich dabei zu, wie er seinen Kopf in den Nacken legt und ein gedämpftes Stöhnen nicht unterdrücken kann.
Dann hat er sich wieder im Griff und erneut kommen sich unsere Gesichter so nahe, dass unsere Schatten ineinander übergehen. Ich stehe nur da und spüre die Wärme seiner Haut auf meinen Lippen. Mit beiden Händen greift er rücklings nach dem stählernen Brückengeländer, um nichts zu tun, was mich in die Flucht treiben könnte. Ich küsse ihn nicht, obwohl die Sehnsucht wie ein raues Schluchzen in meine Kehle drängt, sondern berühre nur für einen Sekundenbruchteil mit der Zungenspitze seinen Mundwinkel, während meine Brust sich von ganz alleine gegen seine drängt und mein Gaumen von Speichel überflutet wird, weil ich ihn beißen will – in den Hals, seine Hände, seine Hüftknochen … ja, ich will an seinen Hüftknochen knabbern.
Ich hab das noch nie gemacht, nie im ersten Schritt und auch nie vollkommen freiwillig, doch jetzt kann ich nicht anders, als meine Hand zu heben und meine Fingerknöchel wie beiläufig die Innenseite seines rechten Oberschenkels hinaufgleiten zu lassen, ein kleines bisschen zu nah an den Knöpfen seiner Jeans entlang
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