Vor uns die Nacht
und trotzdem …
»Oh Gott, Ronia«, flüstert er, sein heißer Atem in meinem Ohr. »Fass mich an, bitte.«
Doch meine Hand ruht schon auf seiner knabenhaft schmalen Taille, die zu glühen scheint unter dem dünnen Hemd, während das Leder seiner Jacke sich schwer und kalt auf meinen Arm legt. Ich will meine Nase in seine Achselhöhle stecken, ihn dort riechen und schmecken. Seinen Herzschlag hören.
Aber nicht jetzt. Nicht an diesem Abend. Er soll warten, wie ich gewartet habe. Ab heute bestimme ich die Regeln.
Ungehemmt atmet er in meinen Mund, als unsere Zungen sich berühren und unsere Lippen ihnen folgen, das kann ich ihm nicht verwehren, es ist unmöglich, ich schaffe es nur noch, mich hin und wieder zurückzuziehen und ihn auf Abstand zu bringen, sodass ich zuschauen kann, wie seine Brust sich hebt und senkt und er kaum imstande ist, mich anzublicken, weil es ihm die letzte Kontrolle entziehen würde. Ich muss betörend schön aussehen im schwarz-gelben Zwielicht dieser Nacht.
»Fass mich an …«, bittet er mich noch einmal zwischen zwei Küssen. Sein Flüstern klingt hoffnungslos. Er möchte hoffnungslos sein. Ich schmiege meine Hüfte spielerisch an seine und nähre mich an dem unmissverständlichen Wissen, wie sehr er mich begehrt.
Er versucht nicht, mich aufzuhalten oder nach mir zu greifen, als ich mich unter brutaler Willenskraft von seinen Lippen löse, ohne ihm in die Augen zu sehen, zwei Schritte nach hinten trete, mich umdrehe und der Stadt entgegenlaufe.
Ich werfe keinen Blick zurück, meine Fantasie malt ihr eigenes Bild von ihm, wie er immer noch am Geländer lehnt und sich festhält, die Augen halb geschlossen, und sein Atem so kraftvoll und intensiv durch seine Brust wandert, als stehe er in Verbindung mit einer höheren Macht. Dieses Atmen … Es war eigentlich ein Stöhnen, nur mir zuliebe hat er es gedrosselt, obwohl es ihn fast umgebracht hat.
Es schwingt noch immer in meinen Ohren und strömt durch meine Venen, als ich mit bebenden Händen die Tür aufschließe, nach oben schleiche, die Wohnung betrete und mich rücklings auf mein weiches, kühles Bett fallen lasse. Meine Arme weit ausgebreitet, bleibe ich liegen und merke erst jetzt, dass ich die ganze Zeit lächle. Dieses Lächeln ist in meinen Augen, meinem Kopf, meinem Bauch, strahlt wie eine helle Flamme in meinen ganzen Körper. Es war bereits da, als ich ihn berührt habe. Ich war dieses Lächeln.
Noch nie war es so leicht und einfach gewesen. Noch nie hatte ich so wenig Angst verspürt – und noch nie hatte ich mich dabei so sicher gefühlt, nichts falsch machen zu können. Doch mein Herz bittet bereits klagend und bangend um mehr, und mit jeder Stunde, die ich lächelnd wach liege und zu träumen glaube, flutet ein bitteres, dunkles Verlangen die tiefsten Abgründe meiner Seele.
»Denkst du an mich?«, flüstere ich in die Dunkelheit und lausche, als könne ich die Antwort hören, wenn ich nur leise und aufmerksam genug bin. »Denkst du jetzt auch an mich?«
Erst im Morgengrauen glaube ich, ein Ja zu fühlen, irgendwo zwischen Wachen und Schlaf, und ergebe mich dankbar seinem süßen, beruhigenden Rausch.
Silberstreif
H ier stimmt doch was nicht …«, murmele ich verdutzt, als ich um die Ecke biege, und ducke mich unter die tief hängenden Zweige einer sich im Wind biegenden Trauerweide. Jonas’ Auto. Johannas Fahrrad. Beides nebeneinander vor dem Haus meiner Eltern – an einem ganz normalen Freitagnachmittag. Und ich weiß nichts davon. Das kann kein Zufall sein. Aus meinem Versteck heraus linse ich zu den Fenstern hoch, als bewege ich mich auf verbotenem Terrain, dabei bin ich hier aufgewachsen. Wenn jemand das Recht hätte, Erklärungen einzufordern, dann ich. Aber die Situation kommt mir vor wie eine Verschwörung. Was machen die beiden hier? Sie konnten nicht wissen, dass ich vorhatte, zu meinen Eltern zu fahren, es war eine spontane Idee, weil dieser Freitag sich zu einer Tortur für Bauch und Nerven zu entwickeln begann.
Schon gestern Abend hatte ich vor dem Einschlafen so starkes und in Wellen verlaufendes Herzrasen, dass ich irgendwann zwei Baldrian schluckte, um zur Ruhe zu kommen.
Freitag ist Jan-Tag geworden. Es sollte der Jogging-Tag werden und er ist es noch. Auch heute will ich laufen gehen. Doch darüber schiebt sich ein Name, ein Gesicht, eine Verheißung, die so gleißend wie unheilvoll zugleich ist. Seit dem Aufwachen hat die Nervosität mich fest im Griff – in einer lampenfieberartigen
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