Vor uns die Nacht
wird mich gesehen und sich in seiner üblichen Häme eins gegrinst haben. Ist ja auch köstlich – sich davon zu überzeugen, wie nötig es die kleine Ronia hat, den schönen Jan zu sehen. Oder was für eine hartgesottene Läuferin sie ist. Er weiß doch gar nicht, was in mir vorgeht. Ich habe ihm nicht geantwortet, erinnere ich mich erneut. Er hat keine Ahnung. Ausnahmsweise bin ich im Vorteil, genau so, wie ich es die ganze Zeit wollte. Hellsehen können wird er ebenso wenig wie ich, also ist ihm auch nicht bewusst, dass ich in diesen zwei Wochen ungefähr fünfhundert Antworten formuliert und wieder verworfen und mir zudem mehrmals abends vorgestellt habe, wie er sich streichelt und …
»Nicht jetzt«, schiebe ich den Bildern in meinem Kopf einen Riegel vor, streiche meine triefenden Locken zurück und meine Fleecejacke glatt und mustere die Klingelschilder von oben nach unten. M. Müller, Emma Thiel, J. Stumann. Stumann, das ist also sein Nachname. Nicht zu normal, aber auch nicht exotisch. Er wohnt im Erdgeschoss? In meinen Fantasien befanden wir uns immer irgendwo oben. Nicht in meiner Wohnung, sondern … gelöst von allem Irdischen.
Der blecherne Ton der Klingel verrät den Renovierungsstau des Hauses, und als der automatische Öffner zu summen beginnt und ich die Tür aufdrücke, schlägt mir der charakteristische Altbaugeruch nach Öl, Linoleum und verwittertem, kaltem Stein entgegen.
»Hi«, bringe ich schnaufend hervor, mehr nicht, nachdem ich die drei Stufen zur Erdgeschosswohnung genommen habe und ihn in seinem Türrahmen lehnen sehe, entspannt und mit einem furchtbaren Grinsen im Gesicht – furchtbar, weil es schön ist. Verdammt, was für ein schöner Kerl, denke ich bedrückt. Im gedämpften Licht des Flurs sieht er noch strahlender aus als in der Nacht unten am Fluss – oder nehme ich ihn anders wahr? Weil in diesen Sekunden alles anders ist, als es jemals zwischen uns war?
Nun werde ich sein Reich betreten. Es wird mir Geschichten erzählen, ob ich sie hören möchte oder nicht. Und wenn einer jene verborgenen Geschichten versteht, die Räume, Häuser und Steine erzählen, dann ich. Fast wünsche ich mir, diese Gabe nicht zu besitzen, um nicht ein weiteres Mal enttäuscht zu werden.
»Tapfer«, begrüßt er mich knapp. »Du tropfst. Hast du gebadet oder bist du gelaufen?«
»Beides«, entgegne ich brummig und horche auf, als ein dumpfes Rumpeln die alten, hohen Wände der Wohnung erschüttert. »Was ist das?«
»Frachter. So ein Holländer mit antikem Dieselmotor. Kommt alle paar Tage über den Fluss. Dann klirrt sogar das Geschirr im Schrank.«
Geschirr. Ja, natürlich, Geschirr braucht man zum Leben. Hatte ich etwa gedacht, er reißt nachts ein paar Rehe und brät sie über dem offenen Feuer? Er kocht wie ich morgens seinen Kaffee, wäscht seine Klamotten und geht aufs Klo. Apropos …
»Kann ich … hast du ein Badezimmer?«
»Nein, du musst raus in den Garten.«
Ich schaue ihn nur streng an, obwohl mir tausend bissige Konter auf der Zunge liegen, doch ich mache den Fehler, es einen Tick zu lange und zu direkt zu tun. Er weicht nicht aus und es wirkt sofort. Seine Augen sind gar nicht schmal und dunkel, sondern fast so groß wie meine und voller blau und gelb flirrender Funken. Doch mein fatalster Irrtum war zu glauben, sie seien jung. Sie wissen um mich. Schon immer. Von Anbeginn aller Zeiten. Meine Knie werden weich und ich greife schwankend zur Wand, um mich abzustützen. Dazu dieses sanfte, unstete Dämmerlicht. Sehe ich das richtig, brennen in der gesamten Wohnung nur Kerzen? Kein elektrisches Licht? Neugierig luge ich an ihm vorbei in den schmalen Flur hinein. Ja, auf einem halbrunden Abstelltisch flackert eine kleine Stumpenkerze vor einer kleinen, indischen Götterfigur mit Elefantenrüssel, die ihre vier Arme elegant ausbreitet und dabei auf einem Bein balanciert. Die Kerzenflamme lässt das Silber in unterschiedlichsten Schattierungen aufleuchten und die Figur lebendig wirken, als könne sie sogleich eine andere Position einnehmen, wenn sie sich nur dazu entscheidet.
»Das ist Ganesha. Er weist dir den Weg zum Klo.«
»Ich will nur aus den nassen Sachen raus und heiß duschen«, erwidere ich und schlüpfe aus meinen nassen Schuhen, um Jans Ohren nicht mit diesem obszönen Schmatzen zu belästigen, das sie von sich geben, wenn ich laufe. Aufstöhnend befreie ich mich auch von meinen Socken, es ist eine Wohltat, die alten, abgewetzten Holzdielen des Flurbodens unter
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