Vor uns die Nacht
sich zu einem dschungelartigen, hypnotischen Konzert, dem ich trotz meines schwitzenden Frierens wie eingelullt lausche und dabei die Zeit vergesse. Erst der Signalton meines Messengers reißt mich aus meiner Trance. Mit der Hand versuche ich das Display zu schützen, als ich das Handy aus der Potasche meiner Hose ziehe und nachsehe, was Jan mir geschrieben hat. Er muss es sein, denn nur noch er hat auf Facebook einen Signalton für seine Nachrichten. Zu oft endete das Piepsen mit einer Enttäuschung, sodass ich den Ton bei allen anderen Kontakten deaktiviert habe. Ja, es ist Jan. Plötzlich stört mich der Regen nicht mehr. Gerade noch war die Welt dunkel und öde. Jetzt ist alles wieder möglich.
»Masochistisch veranlagt bin ich nicht. Musst schon zu mir kommen, wenn du mich (sehen) willst.«
»Oh nein, so einfach ist es nicht«, grummele ich halb zickig, halb begeistert. Zu ihm kommen? Nach Hause? War es mir an Heiligabend nicht noch undenkbar gewesen, dass jemand wie er ein Zuhause hat? Aber will ich das überhaupt? Das kann auch eine Falle sein und es ist so – ach, es ist so realistisch. Eine Wohnung ist wie ein Tagebuch, das offen herumliegt, man kann darin lesen. Was ist, wenn sie mir überhaupt nicht gefällt oder ich an jeder Ecke Zeichen sehe, die ich nicht sehen will? Außerdem ist er sich seiner selbst viel zu sicher.
»Wenn du mich (sehen) willst.«
Was bildet er sich eigentlich ein? Ich habe ihm nicht geantwortet auf seine Offenbarung und trotzdem geht er davon aus, dass ich auf ihn stehe. Abgesehen davon weiß ich nicht mal, wo er wohnt. Andererseits, wenn ich mich weiter nassregnen lasse, ohne mich zu bewegen, hole ich mir eine Lungenentzündung. Ich muss wieder laufen. Entweder nach Hause – oder zu ihm.
»Hellsehen kann ich nicht«
, tippe ich nach zehn Minuten angestrengten Grübelns und Abwägens griesgrämig in mein Handy, um dessen Wohlergehen ich mir langsam Sorgen mache. Das Display ist kaum mehr lesbar vor lauter schillernden Wassertropfen. Sobald ich die Nachricht abgeschickt habe, mache ich mich zügig auf den Heimweg. Erst am Ende der Brücke, nach drei weiteren unerfreulichen Pfützenfontänen auf Beine und Schuhe, läuft die Antwort ein.
»Fischergasse 7. In zehn Minuten endet die Besuchszeit, dann spielt der FCK.«
Der FCK? Bundesliga? Meine erste spontane Reaktion: Dann eben nicht. Heute nicht und niemals wieder. Es passt nicht ins Konzept. Fußball – das ist zu durchschnittlich, zu typisch und vor allem unfassbar langweilig. Das darf nicht wahr sein. Jan sitzt zu Hause und guckt Fußball? Schwingt dabei vielleicht noch Fähnchen und trägt ein Trikot, in der anderen Hand die Bierflasche? In meinem Kopf waren viele Bilder, doch die meisten davon beschränkten sich auf den Auwald, ein mir unbekanntes, aber geschmackvolles Bett und Jan und mich. Schwitzende Männer, die einem Ball hinterherjagen, haben niemals dazugehört – sie wären mir im Traum nicht eingefallen.
Die Fischergasse, ist die nicht schräg gegenüber vom Museum? Recht nah am Fluss, das würde zu seinen Streifzügen passen, doch sie liegt auch gar nicht weit von unserer Wohnung entfernt. Luftlinie höchstens vierhundert Meter, wenn überhaupt. Jan war mir die ganze Zeit so nah, nicht nur gedanklich, sondern in Wirklichkeit? Diese Vorstellung überfordert mich dermaßen, dass ich aus dem Rhythmus komme und fast über meine eigenen Füße stolpere. Ich hatte gedacht, er würde weiter weg wohnen, in einem der unschönen Außenbezirke der Stadt. Aber nicht zentral, schon gar nicht Altstadt. In der Fischergasse stehen ausnahmslos alte Häuser. Schon seit Jahren warte ich darauf, dass die Kanäle erneuert werden und sie etwas finden, das uns erlaubt, dort in der Erde zu wühlen.
Ich müsste gar nicht mal einen Umweg gehen, um sie zu erreichen; der Weg, den ich bei meinen abendlichen Lauftouren runter zum Fluss wähle, führt ohnehin an der Einmündung der Fischergasse entlang. Zurück bin ich zwar immer eine andere Strecke gelaufen, doch so könnte ich zumindest einen Blick hineinwerfen und abschätzen, in welchem Haus Jan seine Wohnung angemietet hat.
Gedacht, getan, es sind ja nur noch zwei Ecken. Die Erkenntnis trifft mich fast noch härter als die, dass Jan FCK-Fan ist. Denn das Haus ist eines der ersten, und wenn die Dinge so liegen, wie ich befürchte, kann er aus seinen Fenstern wunderbar beobachten, wer den lieben langen Tag an der Einmündung der Fischergasse vorbeispaziert oder wahlweise vorbeijoggt. Er
Weitere Kostenlose Bücher