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Vor uns die Nacht

Vor uns die Nacht

Titel: Vor uns die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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finde, ist ein Kleiderbügel mit einem weißen Hemd, das an dem einzigen Haken der Tür auf bessere Zeiten wartet. Es riecht frisch gewaschen, lediglich am Hemdkragen meine ich, einen Hauch von Jans Parfum zu erahnen. Er ist nicht viel größer als ich, doch es sollte genügen. Ja, das Hemd reicht genau bis unter meine Scham; seine Schöße bedecken, was sie bedecken sollten. Wollte ich in solch einem Aufzug nicht schon immer mal einen Mann verführen? Oh, ich weiß zu gut, dass es eines dieser viel zu oft gequälten Klischees ist, aber sein Hemd fühlt sich gut an auf meiner nackten Haut. Ich schließe nur die mittleren zwei Knöpfe und überprüfe die Wirkung dieses minimalistischen Dresscodes im Spiegel.
    Er begegnet mir wohlwollend. Eine feine, gesunde Röte überzieht mein dauerblasses Gesicht und Dekolleté, während meine Haare in ihren ganz eigenen, dunklen Korkenzieherlocken über meine Schulter fallen. Meine Augen blicken mir gelassen und wissend entgegen. Es ist lediglich mein Kopf, der noch Schwerarbeit verrichtet.
    Und jetzt?, fragt er mich. Unterhöschen an oder nicht? Mein Slip war das einzige Kleidungsstück, das trocken geblieben war. Ohne Höschen, das ist zu billig. Ich will hier ja nicht Neuneinhalb Wochen , Basic Instict und Wilde Orchidee auf einmal nachspielen, das wäre lachhaft. Andererseits wäre es auch unmissverständlich – aber wofür? Dass ich ihn will? Und was, wenn wir dann damit anfangen und ich diese nervtötende Verhütungsfrage klären muss? Außerdem habe ich mir das verboten, es geht nicht. Ein bisschen spielen, ja, aber nicht die ganze Nummer. Ich frage mich, warum ich das immer wieder vergesse. Vielleicht, weil ich es in meinen Träumereien zu oft durchexerziere. Es verselbstständigt sich.
    Bedauernd lese ich den Slip vom Boden auf, schüttele ihn aus und ziehe ihn an. Er hat die exakt richtige Mischung aus »normal« und verführerisch. Kein String, doch an den Seiten geteilt, was ihm das gewisse verruchte Etwas verleiht, jedoch auch Zufall sein könnte. Ich streife das Hemd darüber – prima, man sieht nicht, ob ich etwas daruntertrage oder nicht. Das Höschen zeichnet sich nicht ab.
    Mein Herz beginnt seine üblichen Jan-Kapriolen zu pflegen, als ich aus der Tür trete und mich lauernd im Flur umsehe. Links von mir liegt das Schlafzimmer, ein Raum mit einem breiten Bett und riesigem weißem Wandschrank. Er muss Berge an Klamotten besitzen, wenn er diesen Schrank mit ihnen füllen kann. Links und rechts neben dem Bett stehen zwei antik wirkende Nachttische. Auf einem hat er eine männliche Büste drapiert, auf dem anderen eine weibliche, Nachbildungen von Plastiken aus der Römerzeit. Ich will schon hineingehen, um sie genauer zu untersuchen, weil es mein Beruf von mir verlangt, doch in letzter Sekunde beherrsche ich mich. Also betrachte ich sie nur von der Tür aus, fragend und irritiert. Ich hätte alles erwartet, aber nicht so etwas. Rote Lavalampen, Wasserpfeifen und schwülstige Poster an der Wand – ja, das schon. Doch hier hängt kein einziges Bild und es gibt auch keinen Spiegel über dem Bett. Das beruhigt mich ungemein, denn es wäre ein weiteres K.-o.-Kriterium. Allerdings brennen auch hier zwei Teelichter auf der Fensterbank und verbreiten ein mildes, schmeichelndes Licht.
    Beklommen weiche ich in den Flur zurück und nehme jetzt erst die Geräusche aus dem Wohnzimmer wahr, das sich ebenfalls auf der linken Seite befinden muss, ganz nah an der Wohnungstür. Es ist die typische akustische Kulisse eines Fußballspiels. Hat er das ernst gemeint mit der Besuchszeit und glaubt, ich wollte nur auf halber Strecke duschen, um dann wieder zu verschwinden? Und ich laufe in einem seiner Hemden durch seine Wohnung? Herrgott, worin soll ich denn sonst herumlaufen? In seinem zu kleinen Handtuch oder nackt? Nein, es ist völlig in Ordnung, was ich hier tue, und er wird gefälligst mich anschauen und nicht den Fernseher.
    Doch auch darin war ich blauäugig. Er hebt sogar die Hand, damit ich ja meine Klappe halte, als ich den Raum betrete, weil irgendein Kommentator unter seinem Regenschirm den gewohnten Schwachsinn ins Mikro bellt, während die Zuschauer bereits ihre neandertalerartigen Gesänge angestimmt haben. Doch Jans Fixierung auf die Niederungen der Männerwelt gibt mir Gelegenheit, mich umzusehen, und ich schnappe fast nach Luft, als meine Augen auf die Ottomane fallen, die an der Wand steht. Dunkelrot. Ich hatte von einem dunkelroten Sofa geträumt, letzte Nacht

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