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Vor uns die Nacht

Vor uns die Nacht

Titel: Vor uns die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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erst. Dass wir dort sitzen, meine Füße nur in zierlichen Flip-Flops, und ich irgendwann aus dem einen Schuh schlüpfe und meinen nackten Fuß unter meinen Po klemme. Im Traum überlegte ich noch, ob ich das tun kann und es nicht etwa unhöflich ist, doch jetzt stehe ich im Hemdchen und barfuß vor diesem Sofa und der Gedanke, mich daraufzusetzen, kommt mir frevelhaft vor – und völlig wirkungslos.
    Lieber stelle ich mich mit dem Rücken an die Wand, der rechte Fuß hinter meinem linken an die Wand gestützt, sodass die Hemdschöße ein wenig auseinanderfallen. Ich schaue ihn an und … oh, wow. Zum ersten Mal betrachte ich ihn im Profil. Was ich sehe, überrascht mich so sehr, dass ich meine Pose einen Moment vergesse. Es zeigt eine ganz neue Facette von ihm. Seine Züge erinnern mich an die Darstellungen von Heroen aus den griechischen Sagenbüchern, mit denen ich mir in der Bibliothek manchmal die Zeit vertreibe. Edle, helle Antlitze, die jedoch einen bitteren Zug um den Mund haben – genau das, was ich bei ihm in dieser Perspektive ebenfalls zu erkennen glaube.
    Nun registriert er meine Blicke, wendet den Kopf – und schaltet noch in der Bewegung den Fernseher aus. Brav, lobe ich ihn im Geiste. Genau das wollte ich. Ich weiß nicht, woher mein Lächeln kommt, in Filmen schauen Frauen in solch brenzligen Situationen verwegen und raubtierhaft. Doch ich kann nichts dagegen ausrichten. Ich lächle, strahle fast, als er sich mir nähert und seine Augen wieder in ihre verborgene, dunkle Weichheit zurückkehren.
    Zuerst berühren sich unsere Hände, seine linke und meine rechte. Unsere Finger betasten sich neugierig wie die von Kindern, bevor sie sich ineinander verschränken und ich seine an meine Wange führe, sie an seinen Handrücken schmiege und mich daran reibe wie eine Katze. Ich seufze auf, als er sie öffnet und ich meine Wange hineinlegen kann – noch nie hat bisher ein Mann erspürt, wie sensibel ich im Gesicht bin. Es ist meine erogenste Zone, vor allem dann, wenn seine Finger wie jetzt meinen Mundwinkel streifen und ich … Himmel, was tue ich da? Doch ich will es – und nehme die Kuppe seines Zeigefingers in meinen Mund, ertaste mit der Zunge seinen Nagel und nehme den Geschmack seiner Haut in mich auf. Jetzt versucht er kaum mehr, sein Stöhnen zu unterdrücken, weil meine Liebkosungen ihn an Dinge erinnern, die er sich ersehnt. Seine Stirn sinkt auf meine Schulter, während er sich mit der rechten Hand an der Wand abstützt, und dieses Mal kann ich mich nicht zurückhalten. Bevor ich seinen Kuss erlaube – und er wird sich wieder anfühlen wie ein allererster Kuss, was mich in kindliches Staunen versetzt –, überprüfe ich, was ich längst hatte überprüfen wollen, obwohl ich genau weiß, was mich erwartete. Es entzückt mich zutiefst, durch den groben Stoff seiner Jeans das Pochen seines Blutes zu spüren und dabei sein Stöhnen zu hören, das er nun nicht mehr verbergen kann. Doch ich will nicht, dass er sich verbergen muss, in nichts. Er soll frei sein, auch hier, bei mir, unter meinen Händen. Ich fürchte mich nicht. Denn ich weiß, dass er mir nicht wehtun wird. Alles was geschieht, wird aus meinem Wunsch heraus geboren.
    Unter seinem dünnen Hemd trägt er nichts, endlich kann ich seinen Rücken erfühlen und seine Muskeln, die sich anspannen und wieder weich werden, im Rhythmus seines Atems. Seine Lenden sind heiß geworden, auch hier spüre ich seine geballte Lebenskraft pulsieren, winzige, regelmäßige Erschütterungen in Kopf und Herz.
    »Und? Hast du dich berührt? Hast du es getan?«, flüstert er. Fast täglich, müsste ich antworten, wenn ich noch dazu in der Lage wäre. Aber ich kann keine Sätze mehr bilden. Er weiß es doch sowieso. »Ich würde dir so gerne dabei zusehen.«
    »Jan.« Ich muss seinen Namen aussprechen, seinen richtigen, um mich davon zu überzeugen, dass ich lebe und das hier wahrhaftig passiert. Es ist das einzige Wort, das ich noch formen kann und will. »Jan.«
    Während des Küssens öffne ich meine Augen, auch seine sind leicht geöffnet, so nah, dass wir uns verschwommen wahrnehmen, als befänden wir uns in einem uralten, verblassten Fresko, und ich beginne zu fallen, tief und trudelnd wie Ikarus, dessen Flügel an der Sonne verglühen … Weil er zu hoch geflogen ist, viel zu hoch.
    Jan lässt mich so plötzlich los, dass ich mich mit beiden Händen an der Wand abstützen muss, um nicht auf meinen Hintern zu plumpsen. Seufzend atmet er mit

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