Vor uns die Nacht
zweites Brot. Er wirkt so zufrieden mit sich. Ich wünschte, ich würde mich irgendwann in meinem Leben nur eine Stunde lang so zufrieden fühlen, wie er es jetzt ausstrahlt. Gleich wird er sich in sein Bett kuscheln, das noch nach uns riecht, sich seinen Wecker stellen und ohne Zweifel und Bedenken fest einschlafen. Selbst im Schlaf wird er leuchten.
Meine Nacht jedoch ist nicht zu Ende. Ich brauche die Dunkelheit noch.
Ohne zu fragen, ob ich das darf, schlüpfe ich unter seinem Arm durch und schmiege mich an seine Brust, lege meinen Kopf auf seiner Schulter ab, während er weiterisst. Er summt sogar ganz leise vor sich hin. Oder ist es ein inneres Summen? Ich versuche, seine stille Glückseligkeit in mich aufzunehmen, sie einzuatmen, doch da ist eine Sperre – in mir, nicht in ihm. Es geht nicht.
»Gute Nacht«, flüstere ich. Seine Lider bleiben Schatten, er hebt sie nicht, verschleiert sein wahres Ich. Zu müde. Doch sein Kuss ist innig und ehrlich. Er tröstet mich nur kurz.
Rastlos streife ich am Fluss entlang; auf die andere Seite wage ich mich nicht, nicht so spät am Abend. Der Regen ist versiegt und der Boden duftet nach nassem Sand und Blüten, die der Wind von den Büschen geweht und wie Schnee auf den Wegen verteilt hat. Obwohl die Bänke der Promenade noch von Regentropfen gesprenkelt sind, setze ich mich ans Wasser und schaue zu, wie der Mond sich immer wieder zwischen die dahingleitenden Wolken kämpft. Über mir trudeln Fledermäuse durch die laue Luft. Es ist Sommer geworden. Ja, es ist Sommer.
Nun schleicht sich Musik in meinen Kopf – jener Song, den ich gehört habe, bevor ich losgezogen war. »Unknown Treasure« von Blank & Jones. Sein Text hatte mich sofort in den Bann gezogen, ich konnte ihn auf Anhieb übersetzen, obwohl er seine volle Kraft nur im Englischen entfaltet. Er spricht aus, was ich nie formulieren könnte – über mich, über Jan, er weiß von unseren Wünschen und Träumen. Zu hoch … denke ich. Mein Ziel ist zu hoch. Ich will etwas, aus tiefstem Herzen, aber ich kann es nicht leisten. Es beginnt schon wieder zu schmerzen, obwohl ich nur an meinem Arm riechen muss, um zu wissen, was geschehen ist und wie schwerelos und vertraut es war. Aber es tut weh, wenn ich mich daran erinnere.
Es hat vorher niemals wehgetan. Die Erinnerungen waren meine Schatzkiste gewesen. Wann immer ich wollte, konnte ich sie öffnen und mich an ihrem inneren Glitzern erfreuen. Warum geht es bei ihm nicht? Wo keine Halbedelsteine in den staubigen Kisten ruhen, sondern echte Diamanten, ungeschliffen zwar, aber von einer Reinheit, die ich bisher nicht hatte kosten dürfen?
Ich blicke still auf das schwarze Wasser, den gelblichen Mond und die Fledermäuse, bis ich zu frieren beginne und die Kühle des anbrechenden Morgens mich nach Hause treibt. Es ist so still in der Wohnung, dass ich meine Kopfhörer aufziehe und erneut den Song abspiele, sobald ich im Bett liege.
Fühlt er das auch so wie ich? Oder war ich nur eine Nummer für ihn? Ist er sich dessen bewusst, was heute geschehen ist? Dass es das erste echte Mal für mich war – farbiger und friedvoller, als ich es mir je ausmalen konnte? Dass ich eigentlich heute erst begriffen habe, was Liebe ist – und gleichzeitig, dass ich an ihr scheitern werde, wenn ich es nicht schaffe, mich aus ihrem Sog zu retten?
Nur träge reagiere ich auf das Piepsen meines Leihhandys, das mein dämmerndes Wachliegen um sechs Uhr morgens stört. Doch dann senkt sich tiefe, wohlige Ruhe über meine aufgewühlte Seele.
»Es war einfach nur schön.«
»Ja«, flüstere ich unter Tränen. »Das war es.« Alles ist gesagt. Wie im Traum drücke ich die Playtaste meines MP 3 -Players und tauche noch einmal in unsere Nacht ein, in dieses grenzenlose Reich vor dem ersten Gewitterschlag, als nichts uns voneinander trennen konnte.
Der Schmerz von zu viel Zärtlichkeit – nun kenne ich ihn. Es war seit jeher so bestimmt, dass ich ihn fühlen musste.
Wenn ich noch irgendetwas weiß über mich und mein Leben, dann das. Es musste sein. Und es ist noch lange nicht zu Ende.
Mir graut vor dem nächsten Tag.
Mondfinsternis
U nd immer wieder Freitag«, summe ich in selbstironischer Resignation, als ich aus der Dusche steige und mich einzucremen beginne. Ich dachte, ich könne diesen Kreis durchbrechen und das Schicksal überlisten, doch in Wahrheit habe ich höchstens mich selbst überlistet.
Drei Stunden lang.
Es soll ein besonderer Abend bleiben, für uns beide, und daher
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