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Vor uns die Nacht

Vor uns die Nacht

Titel: Vor uns die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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anhänge und sein Egotrip namens Leben vorüber ist. Wäre es denn wirklich so schrecklich, wenn es passieren würde? Oh, das wäre es, ich weiß das selbst und trotzdem verletzt mich seine Reaktion. Dabei würde ich es ihm nie sagen, wenn es so wäre. Ich würde still und heimlich mein Kind austragen und so tun, als wüsste ich nicht, von wem es ist. »Hast du Hunger? Ist genug da für zwei. Dauert nicht mehr lange, bis es fertig ist.« Nun fliegen auch noch zwei Plastikschüsseln und ein Schneidebrett in die Spüle. Verwundert beobachte ich Jan dabei, wie er die Arbeitsfläche ordentlich sauberwischt und ein bunt kariertes Tuch auf dem kleinen Küchentisch ausbreitet. »Oder willst du lieber auf dem Sofa essen? Ich finde es ja am Tisch besser.«
    »Tisch«, antworte ich kurzsilbig. Es herrscht mal wieder verdrehte Welt. Normalerweise habe ich bei Gesprächen stets den Ton angegeben. Redeanteil Ronia achtzig Prozent und Mann zwanzig Prozent. Bei Jan ist es umgekehrt. Ich schweige, er spricht. Wo ist meine rhetorische Überlegenheit geblieben? Haben meine erotischen Fantasien diese Gabe verdrängt? Doch Essen am Tisch finde ich gut. Die Küche ist als Ort sachlich und unverfänglich, trotz kariertem Deckchen und Erinnerungen an einen Jan, der nur in Shorts bekleidet Salamibrote futtert.
    »Die oder die?« Er hält zwei Serviettenpackungen in die Luft. Ich zucke nur sprachlos mit den Schultern. Das ist mir so was von egal. »In manchen Dingen bin ich ein Weib. Ich glaub, die blauen. Passen besser zu deinem T-Shirt.«
    »Jan, verarschst du mich gerade?«
    »Meinst du im Ernst, ich kaufe Servietten ein, um dich an der Nase rumzuführen? Nein, ich mag Servietten.« Sagt es und faltet sie zum Dreieck, um sie akkurat auf die Decke zu legen, und ich habe ein sehr merkwürdiges Déjà-vu von meiner Mutter und ihrem nervösen Servietten-Origami. Geplättet schiebe ich mich zwischen Wand und Tisch, an jene Seite, die mir am sichersten und wärmsten vorkommt, denn bei Jan stehen sämtliche Fenster offen. Die Luft, die hereinströmt, ist kühl und riecht nach Fluss und Motoröl, wir können sogar einen Frachter vorbeiziehen hören. Die vergangenen Tage hat es viel geregnet, erst heute meldete sich die Sonne zurück. Mein Gesicht ist warm und fühlt sich an, als würde mein Blut sich in den Schläfen stauen, doch mein Bauch friert. Selbst hier an der Wand sitze ich mitten im Durchzug.
    Jan geht ins Wohnzimmer und wirft mir die braune Kuscheldecke zu. Oh, ich mag es, wenn er meine Bedürfnisse erahnt. Und gleichzeitig hasse ich es, weil es mir mein Vorhaben zusätzlich erschwert. Vielleicht sollten wir erst essen und dann reden. Jan nimmt mir die Entscheidung ab, indem er sich zum Wäscheaufhängen verabschiedet. Ich bleibe alleine in der Küche zurück, während der Käse über dem Auflauf zerrinnt und ein köstlicher Duft durch die Wohnung zu strömen beginnt. Befangen schiebe ich die Karteikarten zur Seite, die Jan nach dem Eindecken wieder auf das Tischtuch gelegt hat. Organische Chemie. Ich habe ihn beim Lernen unterbrochen. Überhaupt habe ich hier nichts verloren; schon zum zweiten Mal komme ich ungefragt zu ihm, nie habe ich das jemals so gehandhabt. Ich riskiere eine klare Abfuhr, wenn ich mich weiter so aufdringlich verhalte.
    Aber dann bleibe ich doch, sehe uns entrückt dabei zu, wie wir essen, ich in Spatzenportionen und Jan mit einem Hunger für drei breitschultrige Holzfäller – ich kann nicht glauben, welch gigantische Portionen in diesem schmalen Kerl Platz finden.
    »Ich verbrenne viel Energie«, erklärt er mit vollem Mund, als er meine skeptischen Blicke bei Teller Nummer vier bemerkt. »War ein stressiger Tag und eine stressige Woche. Zwei Kursarbeiten und einen Laufstegjob, dazu vier Trainingseinheiten, ich bin erledigt.«
    Ja, das spüre ich. Er hat noch kein einziges Mal gelacht oder gegrinst. Seine ernste, erschöpfte Grundstimmung verunsichert mich zutiefst. Obwohl ich sein Gähnen mag, wirkt es auf mich wie ein Angriff, als Jan nach Teller vier unter vorgehaltener Hand seinen Kiefer aufreißt und kurz die Augen schließt.
    »Kann ich dich was fragen?«
    »Hm«, macht er schläfrig und ich muss zweimal schlucken, um sicherzugehen, dass meine Stimme nicht zittert. Denn das ist das, was ich am besten kann, wenn meine Hormone auf dem Kopf stehen: heulen. Es bahnt sich gerade wieder an. Nichts ist mehr da, an dem ich mich festhalten kann, alles scheint mir zu entgleiten.
    »War es okay, wie ich … also …

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