Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vor uns die Nacht

Vor uns die Nacht

Titel: Vor uns die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
Vom Netzwerk:
Wasser vielleicht.« Ich muss trinken, meine Kehle ist wie ausgedörrt. Selbst nach dem Laufen habe ich mehr Speichel im Mund als jetzt. Jan hat sich schon in einer Seitwärtsdrehung aus dem Bett gerollt, streift aber nur seine enge Shorts über und legt mir vorsorglich meinen Slip und mein Shirt auf die Matratze. Botschaft: Zieh du dich bitte auch an, bei mir schlafen kannst du nicht. Doch es ist auch ein wenig Wehmut in seinem Blick, als seine Augen über meinen Körper huschen, der sich nicht bemüßigt fühlt, sinnvolle Aktionen auszuführen. Also lasse ich Jan erst einmal ins Bad und durch den Flur tapsen und gönne mir eine Minute, in der ich versuche, meine Vernunft zu aktivieren.
    Jan ist Schüler, sage ich mir erneut, was ich während unserer Umarmungen zum x-ten Mal vergessen hatte. Es geht auf Mitternacht zu, das alles dauerte viel länger, als ich es empfunden hatte; er müsste eigentlich schon schlafen. Vielleicht hat er nach Schulschluss noch ein Shooting oder muss für eine Klausur büffeln; es kann sogar sein, dass morgen eine Arbeit ansteht, und bei aller Liebe – das hätte ich niemals getan. Vor einer Kursarbeit einen meiner Freunde zu mir ins Bett gelockt. Denn dann wäre jegliche Konzentration hinüber gewesen.
    Außerdem ist Jan nun mal niemand, mit dem man sich nachts in stundenlangen Gesprächen verliert. Sie führen letztlich sowieso nur zu Enttäuschungen, weil man nach spätestens drei Wochen nie mehr in jenes verzaubernde Stadium zurückkehren kann, in dem es von Grund auf erfüllend und spannend ist, die Nächte durchzuquatschen und sich gegenseitig Dinge zu erzählen, die sich anfühlen wie jahrelang gehütete Geheimnisse. Bei jedem meiner Ex-Freunde gehe ich inzwischen davon aus, dass ungefähr zwei Drittel davon frei erfunden waren, um Eindruck zu schinden. Wie zum Beispiel die haarsträubende Geschichte von Lukas, die besagte, dass er bei Rihanna als Bodyguard im Backstagebereich gearbeitet und dafür sogar eine Knarre getragen hat. Diese Story war mir sofort spanisch vorgekommen, seine Judo-Trainingseinheiten in Ehren. Wahrscheinlich hat er in Wahrheit allenfalls Pfandflaschen eingesammelt oder den Parkplatz kontrolliert.
    Bei Jan und mir gibt es so etwas nicht. Was sollte ich ihm auch erzählen und was er mir? Wir haben getan, was wir tun wollten, und es war schön gewesen. Der beste Sex, den ich jemals hatte. Nein, das trifft es nicht. Das ist Blödsinn. Selbst das Wort Sex passt nicht. Es war etwas Reines, Ehrliches. Ich war ganz echt. Mehr Ronia hat noch niemand erleben dürfen. Ich weiß nicht, ob das ein Segen ist oder ein Fluch, aber es ist die Wahrheit. Es gab keine einzige Lüge. Die Lügen würden beginnen, wenn ich bleiben würde und wir miteinander redeten.
    Während Jan pfeifend in der Küche herumgeistert und ich den Kühlschrank klappen höre, schäle ich mich unter einem fiesen Ziehen in der Wade und mit nach wie vor sanft pochendem Unterleib aus dem Bett und ziehe mich widerwillig an. Ich wäre gerne noch nackt oder wenigstens größtenteils nackt geblieben, wie er, nur eine halbe Stunde. Aber das kann ich nicht bringen. Er muss in die Federn, sobald er satt ist. Ich erinnere mich zu gut daran, wie quälend es war, morgens um halb sieben aufstehen zu müssen. Vater musste oft fünfmal hintereinander an die Tür klopfen, bis ich es endlich geschafft habe, mich aus meinem Schlummer zu befreien und die Beine aus dem Bett zu schieben.
    Als ich die Küche betrete, steht Jan barfuß am Herd und mampft ein Salamibrot. Er hat sogar eine echte Lampe angeschaltet, die in Laternenform und schwach leuchtend von der Decke baumelt. Mit leiser Ehrfurcht erkenne ich, dass Jan von Kopf bis Fuß durchtrainiert ist, als betreibe er seit Jahren Leistungssport. Hatte er vorhin nicht etwas von Gewichtestemmen gesagt? Aber klar, er muss das tun, um gute Aufträge zu bekommen. Er hat gar keine Zeit mehr, Drogen zu verticken oder dummes Zeug anzustellen. In solch einem Körper steckt viel Arbeit. Manches Mal wird er sich dazu überwinden müssen. Sein Gesicht wirkt erstaunlich jungenhaft und müde unter seinem zerzausten Haarschopf, dessen Strähnen sich in alle Himmelsrichtungen sträuben. Auch diesen Anblick könnte man fotografieren und an ein Magazin verkaufen.
    Schau mich noch einmal direkt an, Jan, bitte, denke ich inständig. Mit deinem offenen Blick. Den Augen deiner alten Seele. Aber er gähnt nur herzhaft und streckt sich, bis sein Nacken leise knackt, und schmiert sich ein

Weitere Kostenlose Bücher