Vor uns die Nacht
hat mich weder berührt noch geküsst noch in irgendeiner Weise gezeigt, dass er mich anziehend findet. Noch nie ist gar nichts passiert zwischen uns. Selbst bei unserer ersten Begegnung im kalten Weihnachtsregen fühlte ich mich sicherer und erwünschter als jetzt. Dabei haben wir miteinander geschlafen.
Zu Hause taumele ich ohne ein Wort zu Jonas ins Wohnzimmer, der irgendeine CSI-Folge auf DVD schaut und Pizza isst. Doch sobald er erkennt, wie mies es mir geht, steht er auf und eilt zu mir, um mich an seine Brust zu ziehen. Es ist anders als sonst, schon nach den ersten Sekunden seiner spontanen Reaktion spüre ich, wie er innerlich von mir abrückt, obwohl seine rechte Hand weiter beruhigend über meinen Rücken streicht.
»Mir geht’s nicht gut«, erkläre ich gedrückt, was er ohnehin ahnte. Jonas kennt mich gut genug, um zu wissen, was los ist, und wird die Tamponpackung im Bad entdeckt haben. Allein das wäre ein Grund, ihn zu lieben – weil er in diesen Tagen immer besonders rücksichtsvoll mit mir umgeht. Jetzt weiß er außerdem sicherer denn je, was ich längst hätte kapieren sollen: dass Jan ein eiskaltes Arschloch ist, wenn es drauf ankommt. Denn eines ist offensichtlich: Ich war auf Pirsch und bin gnadenlos zurück in meinen Bau gejagt worden.
Das ist wie in einer Sitcom, denke ich zynisch. Nur nicht so lustig. Unten am Fluss der Lover in seiner esoterisch angehauchten Wohnung, mit Nacktbildern an der Wand und einem Serviettenfetisch, hier der geduldig wartende Verehrer mit vernünftigem Job in einem Möbelkatalogwohnzimmer. Mein ganzes Leben spielt sich zwischen diesen beiden Polen ab. Das kann noch Jahrzehnte so weitergehen. Ich bin zäh.
»Alles gut«, beschwichtige ich Jonas näselnd. Lügen gehört inzwischen zu meinem Alltag. Vorsichtig löse ich mich aus seinem Arm. »Hatte einen schwachen Moment, sorry. Ich geh ins Bett.« Gerade habe ich das Handy piepsen gehört. Ich muss draufschauen und ich muss dabei alleine sein, denn ich habe keine Ahnung, was mich erwartet. Doch erst mache ich mir einen Tee und eine Wärmflasche und dusche ein weiteres Mal, bevor ich mich in mein Bett lege und mit dem finalen Tiefschlag rechne.
»Bist auch hübsch, wenn du weinst, ich bin nur völlig k. o. Muss schlafen. Erhol dich!«
Ein Teil von mir ist so erleichtert, dass sich ein verzerrtes Lächeln unter mein kurzes Aufschluchzen mischt. Einem anderen sind seine Zeilen zu wenig – viel zu wenig. Selbst Johanna und ich haben uns ein Küsschen geschickt, wenn wir simsten. Wieso tut er es nicht? Trotzdem bereue ich mein Benehmen ihm gegenüber. Ich hab ihn überfordert.
»Du dich auch. Bitte entschuldige meine schlechte Laune. Gute Nacht.«
Es dauert eine Weile, bis seine Antwort reinkommt. Liegen bleiben kann ich dabei nicht. Auf der Matratze kniend warte ich und kann mich vor Anspannung kaum rühren. Schreibt er noch etwas Schönes?
»Schon okay!«
Dann zeigt mir das Handy, dass er offline gegangen ist. Schon okay, das ist eine Antwort, wie sie mir morgen zu dürftig sein wird, zu schwach und oberflächlich, aber ich halte mich an seinem allerersten Satz fest – für jetzt gibt es nur den ersten, sonst werde ich es nicht schaffen, morgen aufzustehen und meine Pflichten zu erledigen. Es wird sowieso immer schwieriger.
Ich kann mir das nicht mehr vorstellen, jetzt, in diesem Moment – mein Studium zu beenden, Klausuren zu schreiben und Prüfungen zu absolvieren, nebenher zu jobben, um mich über Wasser halten zu können. Auch Freunde zu treffen und meinen Eltern zu begegnen – irgendwann werde ich es tun müssen –, erscheint mir kräftezehrend und zudem überflüssig. All das kann mich nicht mehr glücklich machen.
Ich möchte nur noch schlafen und vergessen.
Als es endlich passiert, küsst er mir die Tränen von den Wangen und streicht tröstend über meine Haare.
Ich spüre es genau. Kein Irrtum möglich.
Er ist da.
Nachtblind
J etzt schläft er, tief und fest. Dieses Mal wird er nicht aufwachen, wenn ich mich rühre. So lange habe ich es noch nie gewagt zu bleiben und zu warten, noch in seinem Arm, mein rechter Schenkel auf seinen, seine Lippen an meiner Stirn.
Ich hatte recht, als ich mir mit der hoffenden Verzweiflung eines Schiffbrüchigen einredete, dass es noch nicht zu Ende ist. Es geht weiter, trotz des schlimmen Abends bei ihm. Wir treffen uns. Mal schickt er freitagmittags eine kurze Nachricht, aus der ich lesen kann, dass er mich erwartet, mal treffen wir uns am Fluss, und
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