Vor uns die Nacht
einmal ins Schlafzimmer zu treten und ihn zu betrachten, denn ich würde ihn küssen wollen und ich möchte ihn nicht wecken. Das würde alles zerstören.
Aber jetzt zu gehen, zerstört auch etwas. Nicht zwischen uns, sondern in mir. Es fühlt sich jedes Mal so an, und doch heilen die Wunden wieder so weit zu, dass ich es erneut versuchen kann, sie zu riskieren.
Als ich nach draußen in die kühle Nachtluft trete, in der ich den Hochsommer bereits erahnen kann, komme ich mir vor wie ein Hund, der gerade neben dem warmen Kaminfeuer eingedöst ist und nicht versteht, warum er geweckt und nach draußen gejagt wurde. Es nützt nichts, dass Jan nicht sagte, ich solle gehen. Er hätte sagen müssen, dass ich bleiben soll. Dann wäre es ein Fest, Stunden nach Mitternacht mit seinem Geruch in meinen Haaren durch die schlafende Stadt zu laufen.
So aber zittere ich am ganzen Körper und kämpfe unentwegt gegen meine Tränen an; Tränen der Erschöpfung und Angst. Alles wirkt surreal, bedrohlich und unecht, als wolle die Stadt mich nicht, und selbst mein Körper verweigert sich mir, trotz des Lauftrainings, dem ich mich neuerdings mit unerbittlicher Härte unterziehe. Immer wieder muss ich blinzeln, um klar sehen zu können, alle Konturen verschwimmen und verwischen und mein linkes Bein kribbelt, als sei es eingeschlafen. Meine Zehen spüre ich gar nicht mehr. Wieso spüre ich sie nicht – es ist doch gar nicht kalt?
Ich laufe trotzdem weiter, was soll ich auch sonst tun? Zurückgehen, ihn wach klingeln und sagen, dass ich bleiben will? Um mir ein Nein einzufangen? Er würde sich keine höfliche Ausrede einfallen lassen. Außerdem will ich es doch gar nicht! Ein paar Stunden Zweisamkeit, viel fühlen, wenig reden, mehr nicht. Ich bin mir zudem sicher, dass Jan zu den Menschen gehört, die Frühstück für eine überflüssige Erfindung halten. Zigarette und Kaffee und eine gute Portion Wortkargheit, das wird ihm genügen. Was macht er eigentlich an seinen Wochenenden? Selbst das weiß ich nicht. Trifft er Freunde? Schaut er stundenlang Fußball? Zieht er in anderen größeren Städten von einer Disco zur nächsten und flirtet dort gedankenlos mit anderen? Oder sind Samstag und Sonntag vollgepackt mit Shootings?
Ich werde es nie erfahren, wenn ich nicht frage, denn wir reden kaum miteinander. Und je massiver unsere Wortlosigkeit wird, desto unmöglicher kommt mir die Überlegung vor, ihn nach seinem Leben auszuhorchen. Auch das ist eine Tabuzone geworden. Außerdem birgt es die Gefahr, dass er im Gegenzug nach meinem fragt, und die Antworten wären beschämend. Es ist gut, dass er nicht sieht, wie verloren und verwirrt ich durch die Straßen schleiche, als dürfte ich gar nicht auf der Welt sein. Es würde alles über mich preisgeben, was er niemals wissen soll. Ich bin paralysiert vor Angst.
Zweimal verlaufe ich mich beinahe und biege in die falschen Gassen ab, obwohl ich mich in der Stadt blind auskenne. Meine Seele schläft noch, wollte sich nicht aus seiner Umarmung lösen lassen. Nur meinen Körper habe ich bei mir und er funktioniert nicht richtig. Ich brauche mehrere Minuten, bis ich es mir glückt, die Haustür aufzuschließen; ich weiß nicht, ob es an mir oder dem Schlüssel liegt. Die Treppe nehme ich wie eine Betrunkene, torkelnd und zu laut, und vermutlich wird Jonas genau das denken, wenn er mich hört. Ronia auf dem direkten Weg in den Abgrund.
Dabei passe ich zum ersten Mal in meinem Leben auf mich auf.
Sobald ich im Bett liege, frierend und mit einem tauben Gefühl in meinen Muskeln, glaube ich ihn wieder neben mir zu spüren. Wie grausam die Wahrheit doch ist. Alleine zu sein.
Er müsste mich gar nicht im Arm halten, nicht einmal berühren. Es würde genügen zu wissen, dass er da ist.
Neben mir atmet und lebt.
Erst jetzt habe ich eine Ahnung davon, was Einsamkeit bedeutet.
Reflexionen in Schwarz
J onas! Hilfe!« Mit jedem Rufen wird meine Stimme kraftloser und brüchiger. Sie wird ihn niemals erreichen können, das Badezimmer ist noch weiter weg von seinem Zimmer als mein eigenes und die Wände sind dick. Trotzdem versuche ich es erneut und schlage dabei mit der Faust gegen die Waschmaschine, denn meine Arme kann ich noch bewegen, wenn auch nur unter Schmerzen. »Jonas, bitte komm, bitte!«
Klappte da eine Tür? Angestrengt kneife ich die Augen zusammen und blinzle, doch die wandernden Schlieren bleiben und auch die massive Unschärfe, die mir jegliche Orientierung raubt.
Die Orientierung in
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