Vor uns die Nacht
es ist vorauszusehen, was geschehen wird. Die Begegnungen unserer Körper sind schön, immer noch und immer wieder, ich kann mir mein Leben ohne diese traumwandlerischen, stillen Stunden zu zweit nicht mehr vorstellen und auch nicht, jemals wieder an den Fluss zu gehen, ohne an ihn zu denken. Ich sehe seinen Namen auf seinen Wellen. River.
Doch ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, glücklich zu sein. So oft habe ich mit zerfurchter Stirn und kreisenden Gedanken am Laptop gesessen und Nachrichten voller Geständnisse und Abschiedsworte geschrieben, die er niemals bekommen hat und auch nie bekommen wird. Denn ich kann keinen dieser Briefe schreiben, ohne irgendwann unter Tränen auszusprechen, dass ich ihn liebe – und das, obwohl ich nicht weiß, ob es die Wahrheit ist.
Mein Alltag ist nahezu erstarrt. Den Job im Museum habe ich mangels verkaufter T-Shirts verloren (was mir recht war), ein neuer ist nicht in Sicht. Kai Schuster hat aufgehört, mahnend zu erwähnen, dass er meinen Platz nicht mehr lange freihalten kann, zwischen meinen Eltern und mir herrscht Funkstille und Johannas neue beste Freundin ist Chiara. Wenn wir uns an der Uni treffen, winden wir uns vor Verlegenheit.
Doch all das kenne ich und was ich kenne, kann ich ertragen. Die Angst vor dem Augenblick, in dem ich Jan verliere, entzieht sich meiner Imaginationskraft. Solange ich hier bei ihm liegen und spüren kann, wie er in den Schlaf übergleitet, gibt es Hoffnung, dass sich alles zum Guten und Normalen wendet, inklusive eines frappierend schönen Lovers. Es muss möglich sein, ihn irgendwann mit Leichtigkeit und Freude am Jetzt in mein Dasein zu integrieren. Allein an mir liegt es, dass ich das noch nicht hinkriege. Ich muss aufhören zu zweifeln und zu hinterfragen. Alles braucht sein Training – vielleicht auch eine Affäre. Es ist schließlich meine erste.
Nun zuckt er im Schlaf, was er wohl träumt? Ich werde es nie erfahren. Das sind Dinge, über die wir nicht sprechen. Wir nehmen uns nur das voneinander, was andere uns nicht geben können. Noch nicht. Für mich ist jetzt wieder einmal die Zeit gekommen zu gehen, bevor er wach wird und merkt, dass ich noch da bin. Er atmet lediglich etwas lauter aus, fast ein Seufzen, als ich mich von ihm löse und augenblicklich zu frieren beginne, obwohl mir eben noch die Decke zu viel war, die er im Halbschlaf über meinen nackten Po gezogen hat. Noch nie hat das ein Mann getan – mich nach dem Sex zugedeckt. Bei ihm scheint es, als wäre es das Erste, woran er denkt, wenn er gekommen ist. Dafür zu sorgen, dass ich nicht friere. Vielleicht würde ich nicht so sehr frieren, wenn er sich nicht jedes Mal in letzter Sekunde zurückziehen würde. Nach wie vor leuchtet mir nicht ein, wieso er das tut, doch ich schaffe es nicht, ihn danach zu fragen. Obwohl es dumm und leichtsinnig ist, hoffe ich bei jedem neuen Treffen insgeheim darauf, dass er das Kondom weglässt und ich ihn endlich ohne eine Grenze zwischen uns spüren kann. Niemals hätte ich gedacht, dass jemand wie er in diesen Dingen so penibel ist, und immer mehr fühlt es sich wie eine Zurückweisung an. Ob er das bei jeder Frau auf diese fast pedantische Weise gehandhabt hat? Oder tut er das nur bei mir? Jetzt ist mir so kalt, dass mein Kiefer sich verkrampft, während ich im Dunklen durch das Zimmer und in den Flur laufe, um meine Kleidungsstücke aufzusammeln. Hier eine Socke von ihm, da eine von mir; mit den Zehen stoße ich gegen seinen Gürtel, den er vorhin in einem Rutsch aus den Schlaufen gezogen und achtlos fallen gelassen hat.
In der Wohnung ist es totenstill. Mir kommt es verkehrt vor, wach zu sein und mich zu bewegen, geradezu dumm. Ein tiefer, uralter Instinkt drängt mich zurück zu ihm und in seinen Arm. Meine Kleider können mich nicht wärmen und erst recht nicht meine Verwundbarkeit lindern, die ich empfinde, als ich sie überziehe. Es darf nichts an meine Haut außer seiner Haut, es ist falsch, was ich hier tue.
Die Welt da draußen wird Feindesland sein, dunkel und kalt und erfüllt von bösen Geistern, die unsichtbar um mich herumschwirren und mir erneut einflüstern wollen, dass das absolut irrsinnig ist, was ich hier vorhabe, dass ich all dem niemals gewachsen bin, es wird mir mein Herz brechen, ja, das wird es.
»Ich will es so. So und nicht anders. Es ist richtig«, rede ich mir in Gedanken tapfer zu, bevor ich auf Socken und mit den Stiefeln in der Hand zur Wohnungstür schleiche, und verbiete es mir, noch
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