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Vor uns die Nacht

Vor uns die Nacht

Titel: Vor uns die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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meinem Körper habe ich bereits seit dem Aufwachen verloren, ich fühle mich, als hätte jemand meine Beine und Hüften von der Taille getrennt. Keuchend sehe ich dabei zu, wie meine Füße zucken, doch ich kann es weder stoppen noch sie aus eigener Kraft bewegen. Sie machen, was sie wollen. Wie in einem Anfall werden meine Waden geschüttelt, dann wieder ruhen sie schlaff und leblos auf dem Kachelboden. Mit meinen beiden Händen umfasse ich den unteren Teil der Toilette und versuche mich ein Stückchen in Richtung Tür zu ziehen. Vielleicht schaffe ich es, zu Jonas zu kriechen. Wenn er mich nicht bald findet und rettet, werde ich bewusstlos vor Angst.
    »Ronia? Was machst du da? Oje, du bist betrunken. Und wahrscheinlich nicht nur das.«
    »Ich bin nicht betrunken!«, will ich mich gegen seinen eindimensionalen Verdacht wehren, doch meine Worte sind so undeutlich, als habe ich mir tatsächlich drei Cocktails genehmigt.
    »Ja, klar.« Er greift nach meiner Hüfte und zieht mich auf die Knie, aber sie rutschen wieder weg, sodass ich mit der rechten Schulter gegen die Toilette schlage. »Also anderes Zeug? Haschisch? Bist du bekifft? Mann, Ronia, dass du dich mit ihm abgibst, ist die eine Sache, aber musst du dich dann deshalb auch in seine Sucht reinziehen lassen?«
    »Er ist nicht süchtig und ich … Jonas, bitte, hilf mir. Hilf mir!« Das panische Flehen in meiner Stimme lässt ihn aufhorchen. Obwohl mir mit jedem Wort schlechter wird, rede ich weiter, ohne dabei sehen zu können, ob er mir in die Augen schaut. »Hör mir zu, nur kurz. Ja? Hörst du zu?«
    »Ja. Ich höre dich.«
    Ich kann ihn nur undeutlich wahrnehmen, wie alles um mich herum. Überall wabern graue, dichte Nebelschlieren. »Ich war nicht bei Jan heute Abend, nur laufen, ich war nicht da, ehrlich! Ich bin eben aufgewacht und fühlte mich komisch und dann bin ins Bad gegangen, weil meine Füße kribbelten und kalt waren, so eiskalt. Ich wollte mir eine Wärmflasche machen. Doch plötzlich kippten mir die Beine weg und jetzt …« Halb blind greife ich nach vorne und bekomme eine Hand zu fassen. Hilfe suchend schlingen sich meine klammen Finger um seine. Er zieht sie nicht weg. »Ich kann sie nicht mehr bewegen. Ich spüre sie, aber ich kann sie nicht mehr bewegen, schau doch.«
    Wieder verstärkt sich das fremdartige Rieseln und Kribbeln in meinen Venen und meine Füße werden wie von Geisterhand geschüttelt.
    »Hast du was genommen, Ronia? Irgendwelche Drogen, Medikamente, irgendwas? Du musst mir das sagen.«
    »Nein!« Ich heule, ohne dass Tränen meine Wangen hinunterlaufen. Auch mein Mund ist unerträglich trocken, wie so oft in letzter Zeit, wenn ich nachts aufwache. »Ich schwöre dir, ich hab nichts genommen.«
    »Gut. Ich bringe dich jetzt ins Krankenhaus.«
    »Nein! Das darfst du nicht, ich kann nicht ins Krankenhaus, bitte nicht!« Immer wieder bleibt meine Zunge am Gaumen kleben, weil ich keinen Speichel mehr produziere. Ich höre mich geisteskrank an. Doch ich habe seit jeher scheußliche Angst davor, für länger als ein paar Stunden in eine Klinik zu müssen. Ich besitze noch sämtliche Organe, Blinddarm, Mandeln, Polypen, alles da, und meine Kindheitswunden konnten ambulant behandelt werden. Deshalb hatte ich mir eines Tages vorgenommen, der erste Mitteleuropäer zu sein, der sein ganzes Leben lang niemals in einem Krankenhaus übernachten wird. Jetzt geht es weniger denn je.
    »Keine Diskussion.« Jonas bettet mich auf den weichen Badezimmerteppich und eilt in sein Zimmer, wo er sich in Rekordgeschwindigkeit anzieht, um dann den Flur entlang in mein Zimmer zu rennen und mir meine Klamotten zu bringen. Ohne sich um mein Wimmern und Betteln zu kümmern, stülpt er mir das Sommerkleid über den Kopf, das ich heute Mittag noch getragen habe, und zieht mir meine Sandalen an die nackten Füße. Welchen Sinn ergibt das? Ich kann sie sowieso nicht mehr benutzen.
    Doch ich bin zu schwach, um mich zu wehren, und kapituliere. Dann soll er mich eben ins Krankenhaus bringen. Sie werden mir ein paar Vitamine geben, meine Beine massieren und sagen, dass ich nur einen Schwächeanfall hatte. Oder einen Kreislaufzusammenbruch. Das kann doch passieren, nachdem man bei drückenden 30   Grad fünf Kilometer gelaufen ist, ohne eine Minute Pause zu machen, oder? Doch als ich meine Wade betaste, in der erneut Ameisen umherkrabbeln, kann ich keinen Krampf feststellen; im Gegenteil, die Muskeln fühlen sich erschreckend nachgiebig an.
    »Du kannst wirklich

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