Vorbei: Drei Erzählungen (German Edition)
Nachmittag ging Winckelmann mit Angelis noch einmal zum Hafen. Sie trafen Viezzoli an. Der wollte am Samstag, 4. Juni, oder am Sonntag ablegen.
«So spät?» sagte Winckelmann. «Geht es nicht früher?»
Nein. Jedenfalls sagte Viezzoli ihm zu, rechtzeitig Bescheid zu geben.
An den folgenden Tagen unternahm Winckelmann mit Angelis seinen Morgenspaziergang, ging anschließend mit ihm in Griottis Café, traf ihn in der Osteria Grande am Mittagstisch, besuchte am Nachmittag noch einmal das Café mit ihm, unternahm mit ihm seinen Abendspaziergang, und das Abendbrot verzehrten sie gemeinsam in Angelis’ Zimmer Nr. 9.
Der Wirt, Francesco Richter, fragte Angelis, wer dieser Signor Giovanni in Wirklichkeit sei.
Angelis wußte es nicht. Er wollte es selber wissen und sagte zu Winckelmann: «Der Wirt hat mich gefragt, wer Sie sind.»
«Ich zeige Ihnen etwas», sagte Winckelmann. Er öffnete seinen Koffer und zeigte Angelis die silbernen und goldenen Medaillen aus Wien. Er habe sie im Schloß zu Schönbrunn von Ihrer Majestät geschenkt bekommen.
Angelis war tief beeindruckt.
Vier Tage später, Dienstag, kam endlich Bescheid: Am Abend des nächsten Tages, Mittwoch, 8. Juni, gehe das Schiff nach Ancona ab.
II.
Der Kriminalaktuar Johann Veit Piechl von Ehrenlieb schrieb am 8. Juni: «… vor dem Kriminalgericht erschien der Städtische Bargello Giovanni Zanardi und eröffnete diesem Kaiserlich-Königlichen Kriminalgericht, erfahren zu haben, daß soeben ein Mord verübt worden sei, und zwar in der Osteria Grande, gelegen an der Piazza dieser Stadt.
Dieses Kaiserlich-Königliche Kriminalgericht beschloß, sich unverzüglich zu dem genannten Orte zu begeben und inzwischen den Gerichtsdiener Biaggio Dalmason zu beauftragen, Ärzte und Chirurgen zu suchen und sie anzuweisen, zur Osteria Grande zu kommen.
Das Kriminalgericht begab sich in Begleitung des Bargello Zanardi zur Osteria Grande, wo es über die rechterhand gelegene Treppe eintrat und in den zweiten Stock gelangte. Am Ende des Korridors sah man eine Menge Leute herumstehen, die sagten, dort liege ein Sterbender. Man befand sich vor einer Zimmertür mit der Nummer 10. Als man anklopfte, wurde sie geöffnet, und man trat gemeinsam mit dem Hochwohlgeborenen Herrn Stanislaus von Kupfersein, Doktor und Stadtrichter, ein, der das Amt des Staatsanwalts wahrnahm, da dieser nicht aufzufinden gewesen war. In dem Zimmer stand eine Menge Leute im Kreise, alle mit dem Gesicht zur Zimmermitte. Nachdem der Bargello einige der Leute aufgefordert hatte, Platz zu machen, sah man auf einer Matratze einen Mann liegen, dessen Rücken und Kopf durch etliche Kissen einigermaßen hochgestützt waren.
Der Mann trug sehr kurz geschnittenes Haar von grauer oder weißer Farbe, von Statur war er ziemlich groß und mager, dem Augenschein nach 50 Jahre alt oder älter, mit abgezehrtem, blassen Gesicht. Er hielt die Augen geschlossen und stöhnte. Bekleidet war er mit einem feinen Hemd, über und über blutig, und mit einer Hose aus schwarzem Leder. An den Füßen eine Art Hausschuhe aus weißem Leinen. An seiner rechten Seite stand ein Kapuzinermönch, um ihm sein Seelenheil nahezulegen.
Es wurde gesehen und beobachtet, wie der Chirurg Benedikt Fleck Brust und Bauch des Verletzten versorgte; sie waren mit weißen Leinentüchern verbunden, ebenso beide Hände; die Tücher alle blutig.
In diesem Augenblick kam ein Priester und brachte die heilige Kommunion. Da der Chirurg sagte, daß der Verletzte bereits im Sterben liege, wurde die Kommunion verschoben, jedoch die Letzte Ölung vorgenommen. Als der Verletzte wieder zu Bewußtsein zu kommen schien, wurde die Eucharistie gereicht.
Es erschienen der Stadtchirurgus Antonio Albrici und der Sanitätsphysikus Florian Enenkel; sie fragten den Chirurgen Fleck, ob sie die Wunden des Verletzten sehen könnten, aber Fleck verneinte wegen des vielen Blutes, das aus den Wunden ströme. Er sagte, er habe in der Brust drei Wunden gefunden und im Bauch zwei, alle tief und lebensgefährlich, außerdem Wunden an beiden Händen.
Die nähere Untersuchung der Wunden wurde verschoben; man ging zur Vernehmung des Verletzten über.
Nach seinen Personalien befragt, sagte der Verletzte bloß, er könne nicht sprechen. Er deutete auf einen Koffer und sagte, darin werde man seinen Paß finden.
Da er eine Kopfbewegung gemacht hatte, war um seinen Hals eine schwärzliche Verfärbung zu sehen gewesen.
Auf die Frage, wie es hatte geschehen können, daß er
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