Vorbei: Drei Erzählungen (German Edition)
sagte Frau Cunningham. «Wie lange soll denn diese Fahrt dauern. Wir sind noch nicht einmal bis Madeira gekommen. Das ist doch einfach lächerlich, heutzutage.»
Niemand sagte etwas.
Kapitän Koster bemerkte nebenher, um 6 Uhr würden die Toten der See übergeben. Dann verließ er die Runde.
Hammerton fragte Frau Cunningham: «Wann haben Sie Louis zuletzt gesehen?»
«Gesehen und gesprochen? Oder nur gesehen.»
«Gesehen und gesprochen.»
«Als ich ihn zuletzt sah, habe ich nicht mit ihm gesprochen. Ich bin zum Hafen gegangen und habe beobachtet, wie er mit seiner Madam und mit seiner Mutter an Bord ging. Das ist noch gar nicht so lange her, ungefähr sieben Jahre. Er hat mich am Hafen nicht gesehen.»
Bob sagte: «Es ist 6 Uhr.»
Alle gingen an Deck.
Das Deck war von Matrosen und Soldaten überfüllt. Bis mittschiffs gab es kein Durchkommen mehr.
Kapitän Koster stand nahe der Reling. Die vier Toten, in Segeltuch eingenäht, lagen zu seinen Füßen.
Die Rahen standen in einem Kreuz zueinander, das Schiff war außer Fahrt gesetzt. Die Flagge wehte auf halbmast.
Kapitän Koster nahm die Mütze ab, Matrosen und Soldaten nahmen die Mützen ab.
Kapitän Koster betete das Vaterunser, alle fielen in das Gebet ein. Kräftige Matrosen hoben die Toten nacheinander auf ein Brett und setzten sie über Bord.
Bald kam die Insel Madeira in Sicht. Obwohl man sich dort gut hätte erholen können, segelte Kapitän Koster an der Insel vorbei. Aus der Ferne bietet Madeira einen schönen Anblick.
Die «Arend» nahm südwestlichen Kurs. Sie kam in einen beständigen Nordostwind und nahm so gute Fahrt auf, daß die Mannschaft sechs Wochen lang weder Taue noch Segel anzurühren brauchte.
Aber die Hitze machte allen zu schaffen, und mancher kam mit seiner Wasserration nicht aus. Sogar Dr. Clark klagte über Durst. Frau Cunningham sagte zu ihm: «Ich komme gut mit meiner Ration aus, weil das Wasser stinkt.»
Behrens sagte beim Abendbrot: «Ein holländischer Schiffsjunge hat seinen Durst über einem Branntweinfaß gelöscht. Berauscht ging er in die Kombüse und stieß absichtlich eine große Schüssel voller Fleischfett um. Der Koch schrie: ‹Du Spitzbube, ich breche dir den Hals!›
Der Schiffsjunge griff nach seinem Messer und schrie: ‹Ich stech dich ab!› Er stach nach dem Koch und brachte ihm mehrere Schnitte in die Wangen bei.
Inzwischen waren Matrosen in die Kombüse geeilt; sie nahmen dem Jungen das Messer ab und verprügelten ihn so heftig, daß er vor Wut zu einer hinteren Treppe raste und hinunterfiel. Am Fuß der Treppe kriegte er ein zweites Messer zu fassen, mit dem er sich in den Leib stach.»
«Und nun?» sagte Bob.
«Er mußte verbunden werden.»
Frau Cunningham sagte: «Dieser Schiffsjunge mag ein Tunichtgut sein.
Aber der Koch, nach seiner Physiognomie zu urteilen, ist auch kein Unschuldslamm.»
«Da mögen Sie recht haben», sagte Behrens.
Die Reisenden erblickten die Insel Boa Vista. Behrens sagte: «Es heißt, dort sei die Erde aus Eisen und der Himmel aus Kupfer.»
«Wieso», fragte Bob.
«Es regnet dort selten.»
Von Deck waren gellende Schreie zu hören.
«Was ist das», fragte Frau Cunningham.
«Heute wird der Schiffsjunge bestraft, der Messerstecher», sagte Behrens. «Wir dachten, er käme von der Stichwunde, die er sich beigebracht hat, zu Tode. Aber er hat sich wieder aufgerappelt. Wahrscheinlich schreit er, weil ihm ein Tau um den Leib gebunden wird.»
«Warum das», fragte Bob.
«Er wird heute gekielholt. Man bindet ihm auch Kanonenkugeln an die Füße, damit er tief genug ins Wasser gezogen wird und nicht an den Kiel stößt.»
«Hören Sie auf!», sagte Frau Cunningham. «Ich weiß, was Kielholen ist. Die armen Kerle schneiden sich an den scharfkantigen Muscheln auf, die am Schiff sitzen, oder sie brechen sich Arme und Beine, oder sie ertrinken.»
Behrens sagte: «Kapitän Koster hat befohlen, daß der Bursche dreimal gekielholt wird …»
«Das ist barbarisch», sagte Frau Cunningham.
«Aber das ist noch nicht alles.»
«Ich will nichts mehr hören», sagte Frau Cunningham.
Bob ging an Deck. Dr. Clark ging mit. Sie wollten das Kielen nicht sehen und blieben abseits stehen. Sie wollten wissen, ob der Schiffsjunge die Prozedur überlebt.
Bob sagte: «Ich möchte auch wissen, was danach mit dem Jungen geschieht.»
«Keine Ahnung.»
«Es gibt doch auf dem Schiff keinerlei medizinische Versorgung.»
«Ich will sehen, was ich tun kann», sagte Dr.
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