Vorhang
hasse es, jemand zur Last zu fallen.«
Wir Männer gingen etwas bedrückt aus dem Zimmer und ließen die beiden Frauen allein.
»Was für ein Esel ich doch bin«, sagte Boyd Carrington zerknirscht. »Barbara schien so munter und fröhlich zu sein, dass ich an ihren Zustand gar nicht mehr gedacht habe. Hoffentlich hat sie sich nicht zu sehr übernommen.«
»Ach, ein bisschen Schlaf wird sie wieder auf die Beine bringen«, antwortete ich mechanisch.
Er ging die Treppe hinunter. Ich zögerte und begab mich dann in den andern Flügel, wo mein und Poirots Zimmer lagen. Er würde gewiss schon auf mich warten. Zum ersten Mal hatte ich keine Lust, ihn zu besuchen. Ich hatte über so vieles nachzudenken und spürte noch immer diese dumpfe Unruhe in mir.
Langsam ging ich den Korridor entlang.
Aus Allertons Zimmer drangen Stimmen. Ich glaube nicht, dass ich bewusst lauschen wollte, doch ich blieb automatisch stehen. Plötzlich öffnete sich die Tür, und meine Tochter Judith trat heraus.
Als sie mich sah, hielt sie inne. Ich fasste sie am Arm und zog sie in mein Zimmer. Auf einmal war ich furchtbar wütend.
»Was denkst du dir dabei, zu dem Kerl ins Zimmer zu gehen?«
Sie sah mich ruhig an. Ihr Gesicht zeigte keinen Zorn, nur eisige Kälte. Sie antwortete nicht.
Ich schüttelte sie am Arm. »Ich sag dir, ich dulde so was nicht. Du weißt nicht, was du tust.«
»Du hast eine durch und durch schmutzige Fantasie«, erklärte sie mit leiser, schneidender Stimme.
»Wie du meinst«, antwortete ich. »Das ist ein Vorwurf, den deine Generation der meinigen gern macht. Zumindest haben wir gewisse Maßstäbe. Damit wir uns klar sind, Judith, ich verbiete dir ein für alle Mal den Umgang mit diesem Mann!«
Sie sah mich unverwandt an. »Aha! Jetzt verstehe ich«, sagte sie ruhig.
»Leugnest du, dass du ihn liebst?«
»Nein.«
»Aber du hast keine Ahnung, wie er ist!«
Ich erzählte ihr, was ich über Allerton gehört hatte, ohne etwas zu beschönigen.
»Jetzt weißt du, was für ein gemeiner, skrupelloser Kerl er ist«, sagte ich abschließend.
Sie schien unbeeindruckt zu sein. Ihre Lippen kräuselten sich verächtlich. »Ich versichere dir, dass ich ihn nie für einen Heiligen gehalten habe.«
»Lässt dich das ganz kalt? Judith, so verdorben kannst du nicht sein!«
»Nenn es, wie du willst!«
»Judith, du hast nicht – du bist nicht – «
»Hör zu, Vater! Ich tu, was mir gefallt. Du kannst mir nichts befehlen. Es hat keinen Sinn, mich anzuschreien. Ich werde mein Leben genau so leben, wie ich will, und du wirst mich nicht daran hindern!«
Im nächsten Moment war sie zum Zimmer hinaus.
Ich spürte, wie mir die Knie zitterten.
Ich ließ mich auf einen Stuhl sinken. Es war schlimm – viel schlimmer, als ich geahnt hatte. Das Kind war vollkommen verblendet. Und es gab niemand, der mir helfen konnte. Der einzige Mensch, auf den sie gehört hätte, ihre Mutter, war tot.
Alles musste ich allein tun.
Ich glaube nicht, dass ich je zuvor oder danach so gelitten habe…
Nach einer Weile raffte ich mich auf. Ich wusch und rasierte mich und zog mich um. Ich ging hinunter zum Abendessen. Ich verhielt mich, glaube ich, ganz normal. Niemand schien irgendetwas an mir aufzufallen.
Ein- oder zweimal bemerkte ich, wie Judith mir einen neugierigen Blick zuwarf. Es muss sie, denke ich, erstaunt haben, dass ich in der Lage war, mich so wie sonst zu geben.
Unterdessen festigte sich in mir ein Entschluss. Alles, was ich brauchte, war Mut – Mut und Überlegung.
Nach dem Essen gingen wir hinaus, betrachteten den Himmel, machten Bemerkungen über die drückende Atmosphäre und prophezeiten einen Gewittersturm.
Aus den Augenwinkeln sah ich Judith um die Hausecke verschwinden. Gleich darauf folgte Allerton.
Ich beendete mein Gespräch mit Boyd Carrington und schlug die gleiche Richtung ein.
Norton versuchte mich, glaube ich, zurückzuhalten. Er fasste mich am Arm. Soviel ich mich erinnere, wollte er mich in den Rosengarten lotsen. Ich kümmerte mich nicht darum.
Er war noch bei mir, als ich um die Hausecke bog.
Da standen sie! Ich sah Judiths emporgewandtes Gesicht, ich sah, wie Allerton sich über sie beugte, sie in die Arme nahm und küsste.
Dann lösten sie sich rasch voneinander. Ich trat einen Schritt auf sie zu. Norton zog mich gewaltsam hinter die Hausecke zurück und sagte: »Hören Sie, Sie können doch nicht – «
»Ich kann sehr wohl«, unterbrach ich ihn. »Und ich werde auch!«
»Es hat keinen Sinn, mein
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