Vorhang
nachdenklich. »Ich weiß es nicht…«
»Eine Menge Leute würde theoretisch mit Ihnen übereinstimmen«, sagte Norton ruhig. »Aber die Praxis ist eine andere Sache.«
»Das ist nicht logisch.«
»Natürlich nicht«, erwiderte Norton ungeduldig. »In der Praxis ist es eine Frage des Muts. Schlicht gesagt, man hat nicht die Courage.«
Judith schwieg, und Norton fuhr fort: »Um offen zu sein, Judith, bei Ihnen wäre es vermutlich das Gleiche. Sie hätten nicht den Mut, wenn es so weit wäre.«
»Sie glauben, nicht?«
»Ich bin sicher.«
»Da dürften Sie sich irren, Norton«, sagte Boyd Carrington. »Judith besitzt sehr viel Mut. Glücklicherweise bietet sich nicht oft die Gelegenheit, ihn auf diese Art zu beweisen.«
Im Haus drüben ertönte der Gong.
Judith erhob sich. »Sie irren sich tatsächlich«, sagte sie bestimmt zu Norton. »Ich habe mehr – mehr Courage, als Sie ahnen.«
Sie ging rasch aufs Haus zu. Boyd Carrington folgte ihr und rief: »He, warten Sie doch, Judith!«
Ich setzte mich ebenfalls in Bewegung. Das Gespräch hatte mich irgendwie verstimmt. Norton, der ein feines Gespür für Stimmungen hatte, versuchte mich zu beruhigen.
»Sie meint es nicht wirklich«, sagte er. »Das ist nur so eine unausgegorene Idee, wie man sie in der Jugend hat. Aber zum Glück setzt man sie nicht in die Tat um. Es bleibt alles nur Gerede.«
Ich glaube, dass Judith seine Worte gehört hatte, denn sie warf ihm über die Schulter einen wütenden Blick zu.
Norton senkte die Stimme. »Theorien tun niemand weh«, sagte er. »Aber wissen Sie, Hastings – «
»Ja?«
Norton schien etwas verlegen zu sein. »Es geht mich ja nichts an«, sagte er, »aber wie gut kennen Sie Allerton?«
»Allerton?«
»Ja! Es tut mir leid, wenn ich Ihnen zu nahe trete, aber ehrlich gesagt, wenn ich Sie wäre, würde ich meine Tochter nicht so oft mit ihm allein lassen. Er ist – nun, er hat nicht den besten Ruf.«
»Ich habe schon gemerkt, was für ein Windhund er ist«, erwiderte ich bitter. »Aber das ist heutzutage nicht so einfach.«
»Ja, ich weiß. Die Mädchen können auf sich selbst aufpassen, heißt es. Und die meisten können es auch. Aber – nun – Allerton hat auf diesem Gebiet eine besondere Technik.« Er zögerte und fuhr dann fort: »Sehen Sie, ich hab das Gefühl, dass ich es Ihnen erzählen sollte. Sie dürfen es natürlich nicht weiterverwenden – aber ich weiß zufällig etwas ziemlich Übles über ihn.«
Er erzählte mir eine Geschichte – und ich fand sie später in allen Einzelheiten bestätigt. Es war haarsträubend: die Geschichte eines selbstsicheren, modernen, unabhängigen Mädchens. Allerton hatte bei ihr all seinen Charme ausgespielt. Später kam die Kehrseite der Medaille – es endete damit, dass ein verzweifeltes Mädchen sich mit einer Überdosis Veronal das Leben nahm.
Und das Furchtbare an der Sache war, dass dieses Mädchen Judith glich – unabhängig und intelligent. Der Typ Mädchen, der, wenn er einmal sein Herz verliert, dies mit einer verzweifelten Hingabe tut, zu der ein oberflächliches, leichtfertiges Ding niemals fähig wäre.
Ich setzte mich mit den schlimmsten Vorahnungen zum Mittagessen.
12
» B edrückt Sie irgendetwas, mon ami ?« fragte mich Poirot an diesem Nachmittag. Ich antwortete nicht, sondern schüttelte nur den Kopf. Ich hatte das Gefühl, dass ich Poirot nicht auch noch mit diesem rein persönlichen Problem belasten dürfe. Außerdem hätte er mir sowieso nicht helfen können.
Judith hätte seine Vorhaltungen mit der lächelnden Gleichgültigkeit der Jugend gegenüber den langweiligen Ratschlägen der Älteren abgetan.
Judith, meine Judith…
Es ist nicht leicht zu beschreiben, was ich an jenem Nachmittag durchmachte. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, dann bin ich geneigt, einiges davon auf die Atmosphäre von Styles zurückzuführen, wo man leicht von trüben Gedanken befallen wurde. Es hatte nicht nur eine düstere Vergangenheit, sondern auch eine unheimliche Gegenwart. Die Schatten eines Mordes und eines Mörders suchten das Haus heim.
Und nach allem, was ich wusste, war Allerton der Mörder und Judith im Begriff, ihr Herz an ihn zu verlieren! Es war unglaublich – ungeheuerlich –, und ich wusste nicht, was ich tun sollte.
Nach dem Essen nahm mich Boyd Carrington beiseite. Er druckste ein wenig herum, bevor er zur Sache kam. Schließlich sagte er stockend: »Glauben Sie nicht, dass ich mich in Ihre Angelegenheiten mischen will, aber ich finde,
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