Vorkosigan 10 Grenzen der Unendlichkeit
Kleiner. Mit einer leichten Neigung des Kopfes erwiderte er ihr: Ja, ich verstehe.
»Ich bin mir nicht sicher, wo die Gerechtigkeit in diesem Fall liegt«, sagte Miles, »aber das schwöre ich euch allen, die Tage sind vorüber, wo man so etwas einvernehmlich verheimlichen konnte.
Keine geheimen, nächtlichen Verbrechen mehr. Jetzt herrscht das Tageslicht. Und wenn wir von nächtlichen Verbrechen reden«, er wandte sich wieder Ma Mattulich zu, »waren Sie es, die letzte Nacht versucht hat, meinem Pferd die Kehle durchzuschneiden?«
»Ich habe es versucht«, sagte Ma Mattulich jetzt ruhiger in einer Welle von Schnell-Penta-Sanftheit, »aber es hat sich immer wieder aufgebäumt.«
»Warum mein Pferd?« Miles konnte die Empörung in seiner Stimme nicht unterdrücken, obwohl den Schnell-Penta-Vernehmern vom Trainingshandbuch ein ruhiger, gelassener Ton zur Pflicht gemacht wurde.
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»Ich bin nicht an Sie rangekommen«, sagte Ma Mattulich
schlicht.
Miles rieb sich die Stirn. »Rückwirkender Kindesmord an einem Stellvertreter?«, murmelte er.
»Sie«, sagte Ma Mattulich, und ihre Abscheu drang sogar durch die widerliche Heiterkeit des Schnell-Penta, » Sie sind der Schlimmste. All das habe ich durchgemacht, all das habe ich getan, mein ganzer Kummer, und jetzt am Ende kommen Sie daher. Ein Mutie, der zum Herrn über uns alle gemacht wurde, und die Regeln wurden geändert, am Ende verraten durch die Schwäche einer Frau von einem anderen Planeten. Sie machen alles zunichte. Ich hasse Sie. Übler Mutant …« Ihre Stimme erstarb in einem benommenen Gemurmel.
Miles holte tief Luft und blickte sich im Zimmer um. Tiefe Stille herrschte, und niemand wagte sie zu brechen.
»Ich glaube«, sagte er, »damit ist meine Untersuchung der Fakten in diesem Fall zu Ende.«
Das Rätsel um Rainas Tod war gelöst.
Das Problem der Gerechtigkeit blieb unglücklicherweise übrig.
Miles unternahm einen Spaziergang. Obwohl der Friedhof nur wenig mehr als eine simple Lichtung im Wald war, bildete er doch im Morgenlicht einen Ort des Friedens und der Schönheit. Der Bach gluckerte unaufhörlich, ließ grüne Schatten tanzen und blendete mit Lichtreflexen. Die zarte Brise, die den Rest des nächtlichen Nebels davongetragen hatte, flüsterte in den Wipfeln, und die winzigen, kurzlebigen Lebewesen, die mit Ausnahme der Biologen alle auf Barrayar Käfer nannten, sangen und zwitscherten im einheimischen Gebüsch.
»Also, Raina«, seufzte Miles, »und was mache ich jetzt?« Pym blieb am Rand der Lichtung zurück, um Miles Raum zu lassen.
»Schon in Ordnung«, versicherte Miles dem winzigen Grab, »Pym hat mich schon einmal dabei ertappt, wie ich mit Toten redete.
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Vielleicht denkt er, ich sei verrückt, aber er ist viel zu gut erzogen, um das zu sagen.«
Tatsächlich sah Pym nicht sonderlich glücklich aus; ihm schien überhaupt nicht gut zu sein. Miles hatte ein ungutes Gefühl, daß er ihn herausgeholt hatte; eigentlich hätte der Mann im Bett bleiben sollen, aber Miles hatte diese Zeit verzweifelt allein gebraucht.
Pym litt nicht nur an den Nachwirkungen von Ninnys Schlägen.
Seit Miles das Geständnis aus Ma Mattulich herausgelockt hatte, war Pym stumm geblieben. Das überraschte Miles nicht. Pym
hatte sich seelisch darauf vorbereitet, den Henker an ihrem vermuteten Schlägertyp von Gebirgler zu spielen; daß jetzt eine verrückte Großmutter sein Opfer sein sollte, hatte ihn sichtlich nachdenklich gestimmt. Miles hatte jedoch keinerlei Zweifel, daß Pym alle Befehle ausführen würde, die er ihm gab.
Miles dachte über die Eigenarten des barrayaranischen Rechts nach, während er auf der Lichtung umherwanderte, das Bächlein und das Licht beobachtete und dann und wann mit der Stiefelspitze einen Stein umdrehte. Das grundlegende Prinzip war klar: Der Geist sollte den Vorzug gegenüber dem Buchstaben haben, die Wahrheit gegenüber formalen Spitzfindigkeiten. Gegenüber dem Urteil des Mannes an Ort und Stelle sollten Präzedenzfälle als zweitrangig angesehen werden. Doch leider war er selbst der Mann an Ort und Stelle. Es gab für ihn keine Zuflucht in automatischen Regeln. Er konnte sich nicht hinter der Floskel das Gesetz sagt verstecken, als wäre das Gesetz ein lebendiger Herrscher mit einer echten Stimme. Die einzige Stimme, die es hier gab, war seine eigene.
Und wem wäre mit dem Tod dieser halbverrückten alten Frau
gedient? Harra? Die Beziehung zwischen Mutter und Tochter war durch das Geschehene schon völlig
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