Vorkosigan 10 Grenzen der Unendlichkeit
zerstört, das hatte Miles an ihren Blicken gesehen, und doch hatte Harra keinen Antrieb zum Muttermord. Miles war es so eher lieber; wenn sie neben ihm gestanden wäre und nach Blutrache geschrien hätte, so hätte ihn das im Augenblick ziemlich verwirrt. Harras Mut, das Verbrechen 102
zu melden, wurde durch solche Gerechtigkeit nur armselig belohnt.
Raina? Ach, das war schwieriger.
»Ich würde dir gern die alte Hexe hier zu Füßen legen, kleine Dame«, murmelte Miles ihr zu. »Ist das dein Wunsch? Dient es dir?
Was würde dir wohl dienen?« War das das große Totenfeuer, das er ihr versprochen hatte?
Welches Urteil hätte ein Echo im gesamten Dendarii-Gebirge?
Sollte er diese Leute tatsächlich einer größeren politischen Aussage opfern, ungeachtet ihrer Bedürfnisse? Oder sollte er all dies vergessen und sein Urteil so fällen, daß es nur denen diente, die unmittelbar davon betroffen waren? Er hob einen Stein auf und warf ihn mit voller Kraft ins Wasser. Er versank unsichtbar auf das steinige Bachbett.
Als Miles sich umwandte, sah er Sprecher Karal am Rand des Friedhofs warten. Karal neigte den Kopf zum Gruß und kam vorsichtig näher.
»Also, Mylord«, sagte Karal.
»Ja«, sagte Miles.
»Sind Sie zu einem Schluß gekommen?«
»Nicht wirklich.« Miles blickte um sich. »Alles, was weniger wäre als Ma Mattulichs Tod, erscheint … unzureichend für die Gerechtigkeit, und doch … ich sehe nicht, wem ihr Tod dienen würde.«
»Ich auch nicht. Das ist der Grund, weshalb ich anfangs diese Einstellung hatte.«
»Nein …«, sagte Miles langsam, »nein, darin hatten Sie unrecht.
Erstens einmal wäre das für Lern Csurik fast tödlich ausgegangen.
Ich war drauf und dran, ihn mit tödlicher Gewalt zu verfolgen. Und es hat fast seine Beziehung zu Harra zerstört. Die Wahrheit ist besser. Etwas besser. Zumindest stellt sie keinen fatalen Fehler dar.
Sicher kann ich … etwas mit ihr anfangen.«
»Zuerst wußte ich nicht, was ich von Ihnen erwarten sollte«, gab Karal zu.
103
Miles schüttelte den Kopf. »Ich wollte etwas verändern. Einen Unterschied machen. Jetzt … weiß ich nicht.«
Sprecher Karal legte die Stirn in Falten. »Aber wir ändern uns.«
»Nicht genügend. Nicht schnell genug.«
»Sie sind noch jung, deshalb verstehen Sie nicht, wie sehr und wie schnell wir uns ändern. Bedenken Sie den Unterschied zwischen Harra und ihrer Mutter. Himmel – bedenken Sie den Unterschied zwischen Ma Mattulich und deren Mutter. Das war eine schreckliche alte Vettel.« Sprecher Karal schauderte es. »Ich erinnere mich an sie – na ja. Und doch war sie zu ihrer Zeit nicht so ungewöhnlich. In dem Augenblick, wo wir hier oben einen Powersat-Empfänger bekommen und ans Kommunikatornetz angeschlossen werden, dann wird die Vergangenheit passe sein. Sobald die Kinder die Zukunft sehen – ihre Zukunft –, werden sie verrückt danach sein. Für die Alten wie Ma Mattulich sind sie schon verloren. Die Alten wissen es auch. Glauben Sie ja nicht, daß sie es nicht wissen. Was glauben Sie, warum wir bisher noch nicht einmal eine kleine Empfängereinheit hier oben bekommen haben?
Die Alten kämpfen dagegen. Sie nennen es verderbliche Einflüsse von anderen Planeten, aber in Wirklichkeit fürchten sie nur die Zukunft.«
»Es muß noch soviel geschehen.«
»O ja. Wir sind schreckliche Leute. Aber es gibt eine Hoffnung.
Ich glaube nicht, daß Sie sich vorstellen können, wieviel Sie bewirkt haben, einfach dadurch, daß Sie hier heraufgekommen sind.«
»Ich habe nichts getan«, sagte Miles bitter. »Meistens bin ich nur herumgesessen. Und jetzt, das schwöre ich Ihnen, werde ich das Ganze beenden, indem ich noch mehr nichts tue. Und dann gehe ich heim. Verdammt!«
Sprecher Karal schürzte die Lippen und blickte auf seine Füße, dann auf die hohen Hügel. »Sie tun in jedem Augenblick etwas für uns, Mutantenlord. Glauben Sie etwa, Sie seien unsichtbar?«
Miles grinste wölfisch. »O Karal, ich bin eine Ein-Mann-Band.
Ich bin eine Parade.«
104
»Sie sagen es, ganz recht. Gewöhnliche Menschen brauchen
außergewöhnliche Beispiele. Damit sie sich sagen können, gut, wenn er das tun kann, dann kann ich gewiß dies tun. Dann gibt es keine Entschuldigungen.«
»Kein Pardon, ja, ich kenne dieses Spiel. Ich habe es mein ganzes Leben lang gespielt.«
»Ich glaube«, sagte Karal, »Barrayar braucht Sie. Sie müssen einfach weiterhin sein, was Sie sind.«
»Barrayar wird mich verschlingen, wenn es das
Weitere Kostenlose Bücher