Vorkosigan 10 Grenzen der Unendlichkeit
kann.«
»Ja«, sagte Karal, die Augen auf den Horizont gerichtet, »es wird Sie verschlingen.« Sein Blick fiel auf die Gräber zu seinen Füßen.
»Aber am Ende verschlingt es uns alle, nicht wahr? Sie werden die Alten überleben.«
»Oder am Anfang«, Miles zeigte nach unten. »Sagen Sie nicht mir, wen ich überleben werde. Sagen Sie es Raina.«
Karals Schultern sanken zusammen. »Stimmt. Das ist wahr.
Fällen Sie Ihr Urteil, Mylord. Ich werde Sie unterstützen.«
Miles versammelte sie alle zu seinem Urteilsspruch in Karals Hof; die Veranda war jetzt zu seinem Podium geworden. Drinnen in der Hütte wäre es jetzt unmöglich heiß und eng für diese Menge geworden, denn die Nachmittagssonne brannte auf das Dach. Allerdings mußten sie im Freien wegen des Sonnenlichts die Augen zusammenkneifen. Sie waren alle da. Sprecher Karal, Ma Karal, ihre Söhne, alle Csuriks, die meisten Bekannten, die am gestrigen Abend bei der Bestattungszeremonie dagewesen waren, Männer, Frauen und Kinder. Harra saß abseits. Lern versuchte, ihre Hand zu ergreifen, obwohl es ersichtlich war, daß sie nicht angefaßt werden wollte, denn sie zuckte immer zurück. Ma Mattulich saß abgesondert neben Miles, stumm und mürrisch, flankiert von Pym und dem stellvertretenden Sprecher Alex, der unbehaglich dreinblickte.
Miles reckte das Kinn und stützte den Kopf auf den hohen Kragen seiner grünen Uniform. Die Uniform der Kaiserlichen Streit105
kräfte, die Miles sich verdient hatte. Wußten diese Leute, daß er sie sich verdient hatte, oder glaubten sie alle, sie sei ein bloßes Geschenk seines Vaters, Ergebnis von Vetternwirtschaft? Zum Teufel damit, was sie dachten. Er wußte es. Er stellte sich vor seine Leute hin und griff nach dem Geländer der Veranda.
»Ich habe die Untersuchung der Anklage abgeschlossen, die
Harra Csurik hinsichtlich der Ermordung ihrer Tochter Raina vor dem Gericht des Grafen vorgebracht hat. Aufgrund von Indizien, Zeugenaussagen und ihrem eigenen Geständnis finde ich Mara Mattulich dieses Mordes schuldig. Sie hat den Hals des Kindes umgedreht, bis er brach, und dann hat sie versucht, dieses Verbrechen zu vertuschen. Sogar noch, als diese Vertuschung ihren Schwiegersohn Lern Csurik in tödliche Gefahr aufgrund irriger Beschuldigungen brachte. Angesichts der Hilflosigkeit des Opfers, der Grausamkeit des Vorgehens und der feigen Selbstsucht der versuchten Vertuschung, kann ich keine mildernden Umstände für das Verbrechen finden.
Außerdem hat Mara Mattulich mit ihrem eigenen Geständnis
zwei frühere Fälle von Kindestötung gestanden, die sie vor etwa zwanzig Jahren an ihren eigenen Kindern begangen hatte. Diese Tatsachen sollen von Sprecher Karal in jedem Winkel des Silvy-Tales verkündet werden, bis jeder Untertan darüber unterrichtet ist.«
Er spürte, wie Ma Mattulichs wütender Blick sich in seinen Rücken bohrte. Ja, mach nur weiter und hasse mich, alte Frau. Ich werde dich noch begraben, und du weißt es. Er schluckte und fuhr fort, wobei die Förmlichkeit der Sprache ihm als eine Art Schild diente.
»Für dieses vollendete Verbrechen heißt das einzig angemessene Urteil Todesstrafe. Also verurteile ich Ma Mattulich zum Tod.
Aber angesichts ihres Alters und ihrer engen Beziehung zu der in diesem Fall am zweitstärksten geschädigten Partei, Harra Csurik, beschließe ich, die Vollstreckung dieses Urteils auszusetzen. Auf unbestimmte Zeit.« Aus den Augenwinkeln sah Miles, wie Pym 106
sehr vorsichtig und versteckt einen Seufzer der Erleichterung von sich gab.
»Aber vor dem Gesetz soll sie für tot gelten. All ihr Besitz, selbst die Kleidung, die sie am Leib trägt, gehört jetzt ihrer Tochter Harra, die darüber nach Belieben verfügen kann. Mara Mattulich darf kein Eigentum besitzen, keine Verträge schließen, keine Klagen wegen Schädigungen vorbringen und auch kein Testament aufsetzen. Sie wird das Silvy-Tal nicht ohne Harras Erlaubnis verlassen. Harra wird über sie Vollmacht haben wie ein Elternteil über ein Kind oder ein Vormund über einen senilen Menschen. In Harras Abwesenheit wird Sprecher Karal sie vertreten. Mara Mattulich soll überwacht werden, um sicherzustellen, daß sie keinem Kind mehr etwas antut.
Des weiteren soll sie ohne Totenopfer sterben. Niemand, weder Harra noch jemand anderer, soll ein Totenfeuer für sie entzünden, wenn sie schließlich beerdigt wird. Da sie ihre Zukunft ermordet hat, so soll auch ihre Zukunft ihrem Geist nur Tod bringen. Sie wird wie die
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