Vorkosigan 12 Viren des Vergessens
selbst gesehen zu werden, nicht als der Sohn seines Vaters oder der Enkel seines Großvaters oder der Nachkomme eines anderen Vorkosigan aus elf Generationen. Da er sich so große Mühe gegeben hatte, war es nicht verwunderlich, daß es ihm gelungen war, alle – sogar sich selbst – zu überzeugen, daß Lord Vorkosigan nicht … zählte.
Naismith war davon besessen, unter allen Umständen zu gewinnen, und davon, daß man sah, daß er gewonnen hatte.
Doch Vorkosigan … Vorkosigan konnte nicht kapitulieren.
Das war nicht ganz dasselbe, oder?
Die Unfähigkeit zur Kapitulation war eine Familientradition.
Im Laufe der Geschichte waren Lords aus dem Hause Vorkosigan erstochen, erschossen, ertränkt, totgetrampelt und bei lebendigem Leibe verbrannt worden. Erst in jüngster Zeit und auf spektakulärste Weise war einer fast in zwei Teile gerissen, dann schnellgefroren, aufgetaut, zusammengenäht und fortgestoßen worden, um erneut verwirrt seines Weges zu torkeln. Miles fragte sich, ob die legendäre Halsstarrigkeit der Vorkosigans nicht teilweise einfach Zufall war; ob Glück oder Pech konnte er nicht sagen. Vielleicht hatten ein paar wirklich versucht zu kapitulieren, aber ihre Chance verpaßt, wie in der Geschichte von dem General, dessen letzten Worte gewesen sein sollen: Keine Angst, Leutnant, auf diese Entfernung kann uns der Feind unmöglich tref… Es gab einen Witz über den Dendarii-Distrikt, daß dessen Bewohner sich schon hatten ergeben wollen, doch es fand sich niemand, der genug lesen konnte, um das Amnestieangebot der Cetagandaner zu entziffern, und so kämpften sie weiter bis zu einem Sieg, der sie verblüffte. In mir steckt mehr von einem Bergbewohner, als ich gedacht hatte. Aber diesen Verdacht hätte er schon über einen Mann hegen sollen, der insgeheim den Geschmack von Ahornmet mochte.
Naismith konnte nachweisbar Vorkosigan umbringen lassen. Er konnte von dem kleinen Lord jeden positive menschlichen Zug abtragen, bis nur das bloße, nackte Dendarii-Grundgestein übrig blieb, kalt und steril. Naismith hatte seine Energie vergeudet, ihm Zeit, Nerven und Geist geraubt, das Volumen seiner Stimme genommen und ihm sogar die Sexualität gestohlen. Doch an diesem Punkt konnte nicht einmal Naismith weitergehen. Ein Bergbe wohner, so stumm wie ein Felsen, wußte einfach nicht, wie man aufgab. Ich bin der Mann, dem Vorkosigan Vashnoi gehört.
Miles warf den Kopf zurück und lachte. Er schmeckte den metallischen Beigeschmack des nebeligen Regens, der in seinen offenen Mund nieselte.
»Mylord?«, fragte Martin unbehaglich.
Miles räusperte sich und versuchte, sich das seltsame Lächeln aus dem Gesicht zu wischen. »Entschuldigung. Ich habe gerade herausgefunden, warum ich meinen Kopf noch nicht habe behandeln lassen.« Und er hatte gedacht, Naismith sei der Listige. Vorkosigans Letzter Widerstand, wie? »Es kam mir komisch vor.« Lustig, genaugenommen. Er stand auf und unterdrückte ein weiteres Kichern.
»Sie versuchen nicht noch einmal dort hineinzugehen, oder?«, fragte Martin beunruhigt.
»Nein. Nicht direkt. Zuerst einmal nach Palais Vorkosigan.
Nach Hause, Martin.« Miles duschte erneut, um den Regen und den Ruß der Stadt abzuwaschen, vor allem aber, um den unangenehmen Geruch der Schande loszuwerden, der ihm noch anhaftete. Ihm fiel auch die Sitte der Landsleute seiner Mutter bezüglich der Taufe ein. Ein Handtuch um die Leibesmitte geschlungen durchsuchte er verschiedene Schränke und Schubladen, um seine Kleidung zur Durchsicht zurechtzulegen.
Seit einigen Jahren hatte er seine Uniform des Hauses Vorkosigan nicht mehr getragen, nicht einmal zu Kaisers Geburtstag oder zu den Winterfestbällen. Er hatte sie zugunsten des – wie ihm schien – höheren Status echter kaiserlicher Militäruniformen, der grünen Ausgehuniform oder der rotblauen Paradeuniform, abgelegt. Er breitete das braune Tuch auf sein Bett aus, so leer wie die abgestreifte Haut einer Schlange. Er inspizierte die Säume und das silbern gestickte Zeichen der Vorkosigans an Kragen, auf den Schultern und an den Ärmeln, ob sie abgetragen oder beschädigt waren, aber ein gewissenhafter Diener hatte alles sauber und abgedeckt verstaut, und die Uniform war in einem ausgezeichneten Zustand. Die dunkelbrauen Stiefel, die er aus ihrem schützenden Beutel gezogen hatte, glänzten noch spiegelglatt.
Grafen und deren Erben, die sich ehrenhaft aus dem aktiveren kaiserlichen Dienst zurückgezogen hatten, durften nach alter Sitte ihre
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