Vorkosigan 12 Viren des Vergessens
Haroche zu überwältigen, wenn er beschließt, Amok zu laufen.« »Erwartest du, daß er das tut?« »Nicht … wirklich. Aber Gregor meint, die Anwesenheit eines regulären Wachsoldaten – eines von Haroches eigenen früheren Männern – würde seine … äh … Offenheit hemmen. Steh es durch, Ivan. Du mußt nicht reden, nur zuhören.« »Da hast du nur allzu recht.« Der KBS-Wachsoldat gab den Code zum Öffnen der Zellentür ein, dann trat er respektvoll zurück. Miles trat als erster ein. Die neuen Haftzellen des KBS waren nicht gerade geräumig, aber Miles hatte schon schlimmere gesehen; sie hatten eigene – wenn auch überwachte – Toiletten. Doch die Zelle roch immer noch nach Militärgefängnis, der schlechtesten beider Welten. Zwei Betten säumten den engen Raum zu beiden Seiten. Auf einem davon saß Haroche, noch immer in dem Hemd und den Uniformhosen, die er vor knapp einer halben Stunde getragen hatte; er war also noch nicht zu dem Kittel und den Pyjamahosen im Orange der Gefangenen verdonnert worden. Doch ihm fehlten Jacke und Stiefel, dazu alle Rangabzeichen und die silbernen Horusaugen. Miles empfand das Fehlen dieser Augen wie zwei brennende Narben an Haroches Hals.
Als Haroche aufblickte und Miles sah, war sein Gesicht verschlossen und feindselig. Ivan folgte und postierte sich neben der Tür, anwesend, aber distanziert. Als Illyan die Zelle betrat, wurde Haroches Gesichtsausdruck verlegen und noch verschlossener, und Miles mußte an den Begriff ›tödlich gekränkt‹ denken.
Erst als Kaiser Gregor, groß und ernst, in den Raum trat, verlor Haroche die Beherrschung über sein Gesicht. Schock und Bestürzung wichen einem Aufflackern offener Angst. Haroche holte Luft und versuchte kalt und finster auszusehen, doch es gelang ihm nur, wie erstarrt zu wirken. Er rappelte sich hoch – Ivan straffte sich –, doch er sagte nur mit brüchiger Stimme: »Majestät.« Er hatte entweder nicht den Nerv, vor seinem Oberbefehlshaber unter diesen Umständen zu salutieren, oder er unterließ es aus Vernunft. Gregor sah nicht so aus, als ob er den Gruß erwidert hätte.
Der Kaiser wies seine beiden persönlichen Gefolgsleute an, draußen zu warten. Miles erwartete nicht, von viel direktem Nutzen zu sein, falls Haroche sich zu einem Angriff auf den Kaiser hinreißen ließ, aber zumindest würde er sich zwischen die beiden Männer werfen können. Sobald Haroche Miles umgebracht hätte, wäre die Verstärkung da. Die Zellentür glitt zu. Miles kam es vor, als spürte er einen Druck in den Ohren, wie in einer Luftschleuse.
Das Schweigen und die Empfindung der Isolierung waren tief hier drinnen.
Nach einer wohlüberlegten Berechnung der Ecken und der verfügbaren Kräfte postierte sich Miles wie Ivan auf der gegenüberliegenden Seite der Zellentür, am äußersten Rand von Haroches Bewegungsraum. Sie würden so still sein wie ein Paar nicht zusammenpassender Steinfiguren, und mit der Zeit würde Haroche ihre Anwesenheit vergessen. Gregor würde dafür sorgen. Der Kaiser setzte sich auf das gegenüberstehende Bett; Illyan lehnte sich mit verschränkten Armen an die Wand, wie nur er es tun konnte: ein personifiziertes Horusauge.
»Setzen Sie sich, Lucas«, sagte Gregor so leise, daß Miles es kaum hörte.
Haroche öffnete die Hände, als wollte er gleich protestieren, doch seine Knie gaben nach, und er setzte sich schwer hin. »Ma jestät«, murmelte er aufs neue und räusperte sich. Ah ja, Gregor hatte recht mit seiner Einschätzung.
»General Haroche«, fuhr Gregor fort, »ich wollte, daß Sie mir Ihren letzten Bericht persönlich erstatten. Das schulden Sie mir, und für die dreißig Jahre, die Sie mir gedient haben – fast mein ganzes Leben, meine ganze Regierungszeit lang –, schulde ich es Ihnen.« »Was …« – Haroche schluckte – »wollen Sie von mir hören?« »Erzählen Sie mir, was Sie getan haben. Erzählen Sie mir, warum. Beginnen Sie mit dem Anfang und fahren Sie fort bis zum Ende. Fügen Sie alle Fakten ein. Lassen Sie alle Rechtfertigungen aus. Die Zeit dafür werden Sie später haben.« Es konnte kaum einfacher oder überwältigender formuliert werden. Miles hatte Gregor schon still gesellschaftlich-charmant, still todesmutig, still verzweifelt und still entschlossen erlebt.
Noch nie zuvor hatte er ihn still zornig gesehen. Es war eindrucksvoll, ihn umgab eine Schwere wie tiefes Meerwasser. Man konnte darin ertrinken, selbst wenn man noch versuchte, hinauf zur Luft zu strampeln.
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