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Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Titel: Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Scharnigg
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weiteres.«
    Interessiert maß mein Vater uns beide. »Ausgezeichneter Vorschlag, das ist hübsch, ja, angemessen hübsch, möchte ich meinen, und mit deutlichem Herkunftsbezug, nicht wahr, wenn auch nicht zu deutlich.«
    Dann hielt ich es nicht mehr aus. »Sind die beiden anderen vom Auto verhimmelt?«
    Schweigen. Max Honigbrod sagte entfernt und leise: »Tot. Im Radio kam eine Meldung. Ich habe den Sender umgestellt am Tag danach. Eine Meldung von einem ausgebrannten Autowrack und einer verbrannten Familie, die Eltern wurden aus dem Wagen geschleudert, hieß es. Ein tragischer Unfall, haben sie gesagt. Danach war der Wetterbericht.«
    »Und bleibt das Lada-Kind bei uns?«
    Nichts. Die Opis sahen in die Nacht, jeder für sich, es gab keine gemeinsame Linie der Erwachsenen, so etwas kam in Pildau bei keiner Entscheidung vor, auch nicht bei den ganz kleinen, jeder rechnete hier stets mit seinen eigenen Zahlen. Heute kann ich mir ungefähr denken, was für Fragen sie damals an die weiche Mailuft hatten. Ich selbst hatte nur noch zwei.
    »Ist das ein Mädchen? Und ist das neue Kind älter als ich? Ich bin sechs Jahre.« Ich hatte mir angewöhnt, auch die Grundlagen immer mal zu wiederholen, denn das waren genau die Dinge, die bei den Opis nur sehr kurz Bestand hatten.
    Über den ersten Punkt herrschte bei den Männern recht schnell Einigkeit. Beim Alter verschanzten sie sich in Positionen, die mir von Höhendiskussionen der Hofstange vertraut waren, und ich hätte mich gar nicht gewundert, wenn einer von beiden losgegangen wäre, um noch mal neutral an Lada zu horchen. Schließlich einigte man sich auf ein Alter von ungefähr fünf Jahren, unter Rücksichtnahme der schnelleren Entwicklung von Mädchen allgemein bei gleichzeitiger Wahrung der Möglichkeit, dass durch den Schock bereits ein Konträrwachstum eingesetzt hatte, von dem mein Vater zu berichten wusste und das aus stattlichen Kriegern laut alter Überlieferung innerhalb weniger Monate nach einer Schlacht bemitleidenswert verwachsene Zwerge gemacht hatte, die nur noch in niederen Dienstgraden und bei der Versorgung einzusetzen waren.
    Das war mir alles egal. Das Wichtigste am Ende dieser einmaligen Schilderung meines Vaters war, dass niemand davon gesprochen hatte, was geändert werden müsste. Das bedeutete, alles konnte so bleiben, wie es war, und die kleinen Erschütterungen würden ebenso schnell vergehen wie die Wellen im Weiher, die Oberfläche würde sich ruhig darüber schließen und alles, alles gehen wie bisher.
     
    Natürlich musste Lada bleiben. Sie war vom ersten Tag an das, was uns noch gefehlt hatte, und damit meine ich in erster Linie, was mir noch gefehlt hatte. Ich konnte nachts neben ihr im Bett liegen und das rote Wellenhaar anstarren, und wenn ich nur nahe genug an sie herankam, konnte ich auch riechen, was ich sah. Frische Regenpfützen auf einer Juniwiese und darin ein Tropfen Benzin, das war ihr Duft. Tagsüber hatten wir, zugegeben, noch einige Probleme. Nach dem Wecken blieb Lada im Bett liegen, ließ die Gutenmorgengeschichte ohne Regung über sich ergehen, obwohl der Großwesir in ihren ersten Wochen zur Höchstform auflief und die ulkigsten Dinge veranstaltete. Lada sah an die Decke und lag reglos, nur ihre Augen waren siedendes Wasser. Erst wenn mein Vater und ich uns aus dem Zimmer in Richtung Zuckerkaffee gemacht hatten, rührte sie sich. Ich hörte es, ein Ohr an der Tür. Kleine Schritte wie zu meinem Schrank, ein Knirschen, als sie das Fenster aufdrückte, dann wieder Ruhe. Wenn ich ins Zimmer kam, saß sie in der Decke auf dem Bett, den Rücken an der Wand und die Beine gestreckt, oft war es eiskalt im Zimmer. Das neue Mädchen sprach nicht, lachte nicht, bewegte sich nicht, maß nur mit seinen siedenden Augen, was wir vor ihm aufbauten. Einen Holzkreisel der Großvater, ein viktorianisches Bilderbuch mein Vater und ich alle Teile der Schatzsammlung, die ich ihr erklärte und dann wie zufällig neben ihr liegen ließ. Hätte sie heimlich eines davon an sich genommen, wäre ich der glücklichste Sechsjährige gewesen, aber sie rührte nichts an.
     
    Auch wenn ich die Sache so niederschreibe, fällt es mir immer noch schwer, diese erste Zeit mit Lada in Pildau richtig einzuschätzen. Was geschehen war, war zweifellos eine Katastrophe, und damit meine ich nicht den Unfall, ich meine die Übersprungshandlung meines Vaters. Ein zerstreuter Denker, der sein eigenes
rising to the occasion
gehörig vergeigt hatte. Es gehörte seit

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