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Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Titel: Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Scharnigg
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passiert war, und schrie auch, der Großvater kam die Treppe herauf, und zu dritt standen wir vor Lada, die uns in diesem Moment zum ersten Mal so ansah, wie sie es in Zukunft noch oft tun würde: voll ehrlicher Verwunderung über das Gebaren der Honigbrods. Der Großvater war es, der sachlich ihre Hand nahm und von allen Seiten betrachtete wie ein Werkstück, schließlich den Nagel entfernte und den Vater nach Jod schickte, was dieser nach einer heillosen Suche in den Küchenschubladen auch fand. Lada hielt währenddessen mit der anderen Hand das Kästchen umarmt, und der Großvater trug sie schließlich verpflastert hinüber in ihr neues Zimmer. So zogen sie dort ein, ein altes Kästchen, das schon immer dort gewohnt hatte, und ein neues Mädchen, das noch nie dort gewohnt hatte.

Kurze Geschichte der Lene-Mama
    Hätte man Marlene John gefragt, sie hätte ehrlich nachgedacht und dann gesagt, dass in ihrem Leben bisher nichts passiert ist. Aber es fragte sie niemand danach, und das war schon ein Teil von dem, was sie eigentlich meinte. Doch es stimmt natürlich nicht. Niemand kann mitten in Schwaben aufwachsen, als einzige Tochter einer strengen, aber kränklichen Mutter und eines netten, aber müden Vaters, in einer kleinen Stadt mit noch fast intakter Stadtmauer, ohne dass irgendetwas passierte. Sie war in den Kindergarten und zur Schule gegangen, wie alle anderen Mädchen aus ihrem Haus auch. Sie hatte Windpocken und später einen Winter lang ein Gerstenkorn, was in der vierten Klasse und bei entsprechenden Sätzen der anderen relativ schnell zu einer kleinen Störung führen kann. In Marlenes Fall tat es genau das.
    Die Mutter fühlte sich angesichts des harmlosen Abszesses am Augenlid ihrer Tochter und ihrer übrigen körperlichen Entwicklung zu einer Anleitung in Waschhygiene berufen und nahm dafür ihren eigenen Waschlappen. Marlene schrubbte sich noch, als die Mutter das Badezimmer lange verlassen hatte, und auch noch, als das Gerstenkorn wieder verschwunden war. Sie wusch sich fortan abwechselnd kalt und so heiß, wie es der Wasserhahn hergab, und die kleine Unentschiedenheit der Haut zwischen Hitze und Kälte war der Moment, der ihr Lust bereitete. Sie rieb ihre Hände unter heißem Wasser, bis das Rot den ganzen Tag hielt, zog sich später die Härchen aus allen Poren des Körpers unter Zuhilfenahme des Rasierspiegels ihres Vaters, dessen Vergrößerung sie darin bestätigte, dass sie behaart war wie irgendein Tier.
    Die Schule durchlief Marlene John in derselben Mittelmäßigkeit, mit der sie im Alphabet an die Reihe kam. Es war noch nicht die Zeit, in der in jedem Schüler etwas Besonderes vermutet wurde, und das kam ihr gelegen, denn sie vermutete auch nichts Besonderes in sich. Ihre Noten ließen es aber jederzeit zu, ungefragt in ihrem Zimmer oder im Bad zu verschwinden, sie grüßte die Lehrer, saß in der vorderen Hälfte, machte keine Flecken, stand in der Pause bei den Mädchen, die auch nichts anderes hatten als einen Heuschnupfen oder ein Pflegepferd, und sehnte den Gong weder herbei, noch fürchtete sie ihn. Über ihr Aussehen wurde niemals ein Wort verloren, woraus Marlene viel später einmal die Erkenntnis ableitete, weder schön noch hässlich zu sein, was sie als besonders ungerecht empfand. Die anderen machten die ersten Schritte, Marlene John blieb stehen. Die anderen sagten die ersten eigenen Sätze, Marlene John dachte sie nur und verschob das Sprechen auf später, und das allein, diese kleine Schüchternheit, besorgte ihr einen Abstand, den sie nie mehr aufholen konnte.
    Sie mochte ihren Vater, fand aber nichts in sich, womit dieses Gefühl zu veröffentlichen gewesen wäre. Ihrem Vater ging es ähnlich, er tröstete sich aber damit, dass das für Väter mit heranwachsenden Töchtern normal war. So waren sich beide über den Flur herzlich zugetan, ohne sich darüber je verständigt zu haben, und als der Vater in ihrem letzten Jahr an der Schule starb, mitten in einer Operation, die den Ärzten und der Mutter als Routine gegolten hatte, war es zu spät.
    Auf der Abschlussfeier verliebte sich Marlene in einen Jungen, neben dem sie das ganze Jahr schon in zwei Fächern gesessen hatte. Sie schrieb ihm am nächsten Tag einen Brief, weil sie von dieser Methode gehört hatte, vier Seiten, die sehr ehrlich waren. Sie warf den Brief dort ein, wo der Junge wohnte, und in dieser Minute war die Verliebtheit vorbei, es hatte ihr nie jemand gesagt, dass man nicht gleich alles aufschreiben durfte,

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