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Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Titel: Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Scharnigg
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jeher zu seinen dringenden anglophilen Überzeugungen, dass jeder Mann im entscheidenden Moment nicht nur richtig, sondern überragend handeln konnte und damit seiner bisherigen Existenz, so mangelhaft sie auch gewesen sein mochte, Glanz verleihen. Das herrliche Empire, pflegte er zu erläutern, war vor allem dank dieser Regel groß geworden, es hatte seine Untertanen in die aussichtslosesten Landstriche und Kriege geschickt, ausgerüstet mit unpraktischer Ausrüstung und Dünkelhaftigkeit, aber eben mit dem festen Vertrauen in
rising to the occasion.
Als Max Honigbrod drei Menschen aus einem brennenden Wagen rettete, war er durchaus auf einem guten Weg zu seiner eigenen Übermenschlichkeit. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem er Lada aus dem verkeilten Kofferraum in den Nachthimmel presste, scheint mir dieses Urteil jedenfalls noch angebracht. Warum er Kind und Familie, so tot sie auch sein mochte, aber nicht zusammenließ, sondern sich mit dem Bündel im Arm auf den Nachhauseweg machte und danach zwar einen Notruf bei der Feuerwehr absetzte, aber seinen Auftritt und den Aufenthalt eines traumatisierten kleinen Mädchens in Pildau verschwieg? Ich kann es nicht anders erklären als mit dem Hang zu fatalen Fehlentscheidungen, der in unserer Familie eine Tradition hat, zu der wir später noch kommen werden. Als Sechsjähriger wusste ich noch nichts davon, sonst hätte ich vielleicht meine Mutproben überdacht.
    Während also jeder Jurist nach dieser Nacht bei uns den erfüllten Tatbestand einer Entführung verzeichnet hätte, verzeichneten die Opis nur, dass Lada weder verletzt war noch in eigenen Worten über ihren weiteren Verbleib entscheiden wollte, und irgendwo zwischen diesen beiden Diagnosen muss die Überzeugung entstanden sein, in dieser Angelegenheit nichts zu überstürzen. Ich bilde mir ein, dass anfangs sogar noch vage davon geredet wurde, das Kind morgen oder bald in die Stadt zu bringen, zu melden, wie mein Vater sagte. Die winzige Frist, die diesen Plan zugelassen hätte, war natürlich längst verstrichen, das muss den Opis bald klar gewesen sein. Wäre in dieser Zeit eine Frau auf dem Hof gewesen, ich bin mir sicher, die Dinge wären anders gelaufen. Lene aber war seit Monaten nicht aufgetaucht, was nicht allzu ungewöhnlich war, und so schufen sich Tatsachen eben dadurch, dass niemand etwas tat. Lada war da und blieb, ich fand das nur natürlich. Ich wusste noch nicht, welches das gängige Verfahren ist, um an neue Kinder zu kommen, aber es kam mir durchaus richtig vor, dass sie vom Vater eines Abends ins Haus getragen werden und sich dann erst mal ein wenig danebenbenehmen. Und Pildau war durchaus ideal für kleine Verschleppungen. Die Bauern kamen auf ihren Traktoren zweimal im Jahr bei uns vorbei, um die angrenzenden Felder zu bestellen, und sahen dabei angestrengt in die andere Richtung. Glaubte man der Einschätzung von Max Honigbrod, war das Dorf ohnehin davon überzeugt, dass bei uns seit den gelegentlichen Damenbesuchen die Grenzen des Anständigen überschritten wären, und selbst die Sichtung eines weiteren Kindes wäre in diese Gerüchtelage problemlos einzubauen gewesen. Die Behörden schickten gelegentlich Briefe, die der Großvater öffnete, der Vater las und die ich beiseiteräumte, wenn ich den Tisch decken musste. Niemals hatte ich das Gefühl, dass davon Gefahr ausging.
     
    »Glaubt ihr, die Lene-Mama kommt nicht mehr, weil wir jetzt Lada haben?« Es war früher Sommer, und es war eine meiner länger durchdachten Fragen, der Mangold in den Beeten stand mir schon bis an die Knie, und wir heizten den Ofen nur noch zum Kochen. Die Opis zogen, jeder für sich, jenes Gesicht, das mir zuverlässig einen Zusammenhang anzeigte, der ihnen noch nie in den Sinn gekommen war. Es war mein Vater, der in solchen Fällen meistens trotzdem gleich antwortete.
    »Jasper, das möchte ich aufs äußerste bezweifeln. Zum einen, weil die Lene bestimmt nichts gegen Lada hat, und zum anderen, weil sie nichts von ihr weiß. Ich habe es ihr noch gar nicht mitgeteilt.«
    Wir schwiegen betreten.
    »Wann ist Stangentag? Sie kommt immer am ersten Stangentag im Jahr!«, rief ich und brachte dem Großvater den Kalender.
    »Zwei Wochen.«
    Zwei Wochen. Zeit war für mich wie für jedes Kind eine der willkürlichsten Einrichtungen der Erwachsenen. Während mir der Ablauf der Jahreszeiten längst geläufig war und ich jeden Monat am Aussehen der Birkenäste erkennen konnte, waren Wochen ein Ärgernis. Schließlich brachte

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