Vorn
einem Artikel
ging es um die verschiedenen Erfolgsmomente oder Pannen, zu denen es beim ersten Telefongespräch mit einem Mädchen kommen
kann, in einem anderen über die besondere Sprache von Liebespaaren, über Zeichen und Worte, die kein anderer außer den beiden
versteht. Der Autor erzählte von einem Paar, das den Satz »Ich liebe dich« nie wirklich aussprach, sondern den Rhythmus der
vier Silben nur von Zeit zu Zeit mit den Fingern auf die Schulter des anderen tippte.
In der Titelgeschichte des Heftes war von der Hingabe die Rede, mit der ein Junge Musikkassetten für ein Mädchen aufnimmt.
Der Artikel beschrieb mit großer Eindringlichkeit, dass es bei solchen Mixtapes nicht einfach um eine Aneinanderreihung von
Lieblingsliedern geht, sondern um eine komplexe innere Logik, um eine |11| Dramaturgie von laut und leise, schnell und langsam, populär und unbekannt, die dabei mithelfen soll, ein Mädchen für sich
zu begeistern. In der Geschichte wurde auch über die Katastrophe berichtet, dass man ganz am Ende einer Kassettenseite, beim
vor- oder drittletzten Lied, plötzlich erkannte, dass der Aufbau von Anfang an falsch gewesen war. Das Gebilde musste also
komplett wieder aufgetrennt und neu zusammengefügt werden.
Tobias hatte das Gefühl, ein solches Heft, eine solche Ansammlung von Artikeln noch nie gelesen zu haben. Es wurde nicht,
wie sonst in Zeitschriften, über eine unzugängliche Phantasiewelt berichtet, über prominente Menschen und weit entfernte Orte,
die nichts mit der eigenen Existenz zu tun hatten. Im
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– und das fiel ihm jetzt zum ersten Mal richtig auf – ging es tatsächlich um das alltägliche Leben der Redakteure und ihrer
Leser. Tobias war verblüfft, wie viel in diesem Heft von seinen eigenen Erlebnissen steckte. Nahm er nicht auch seit Jahren
Mixtapes für Emily auf? Er wusste, wie sehr der Verfasser dieses Artikels recht hatte. Tobias erinnerte sich an die Kassette,
die er für Emily zusammenstellte, kurz nachdem sie sich kennengelernt hatten. Als er sie zum ersten Mal in ihrer Wohnung besuchte,
lief gerade eine Platte von Fugazi aus Washington DC, einer der wichtigsten Bands für ihn damals. Er wusste also, dass sie
einen ähnlichen Musikgeschmack hatten, dass Emily, was bei Mädchen nicht so häufig vorkam, auch laute Gitarrenmusik mochte.
Auf der Neunzig-Minuten-Kassette, die er ihr dann ein paar Tage später schenkte, versammelte er seine ganzen |12| Lieblingsbands, hauptsächlich aus dem Umkreis des Dischord-Plattenlabels, das der eine Sänger und Gitarrist von Fugazi betrieb.
Tobias verbrachte ganze Abende mit der Ermittlung der richtigen Reihenfolge, nahm einerseits besonders eingängige Stücke auf,
dann aber auch eine Reihe von Raritäten, unveröffentlichte Songs von einem Tape mit Fugazi-Aufnahmen etwa, das er in San Francisco
einmal von dem Redakteur eines Punk-Magazins geschenkt bekommen hatte. Doch ansonsten hielt sich Tobias mit solchem Expertentum
zurück, weil er wusste, dass Mädchen das meistens egal war. Er überreichte Emily die sorgfältig beschriftete Kassette, mit
einem Titel versehen, dessen genau berechnete Kombination aus Originalität und Beiläufigkeit ihn Stunden gekostet hatte.
Noch im Zug nahm sich Tobias vor, auch einmal etwas für das
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zu schreiben. Als er mit Emily ein paar Tage später »Before Sunrise« von Richard Linklater im Kino sah, wusste er auch, wovon
sein erster Artikel handeln würde. In dem Film gab es eine Szene, in der Ethan Hawke und Julie Delpy in einer Wiener Bar Flipper
spielten, und Tobias stellte wieder einmal fest, wie unrealistisch in Filmen geflippert wurde. Ethan Hawke bediente die Schläger
unkonzentriert, sah kaum auf die Kugel und unterhielt sich beim Spielen sogar mit seiner französischen Zufallsbekanntschaft.
Am Ende dieser Szene – und das war das Unglaubwürdigste – drehte er sich mitten im Spiel von dem Apparat weg, schlug vor,
noch irgendwo anders hinzugehen, und die herrenlose Flipperkugel fiel rasch ins Aus. Tobias wäre im Kino am liebsten ins Bild
gesprungen, um die herabstürzende Kugel |13| mit den Schlägern aufzufangen, wie einen Gegenstand, der zu zerbrechen droht. Kein Mensch, dessen war sich Tobias sicher,
würde in Wahrheit so spielen, am wenigsten in Gegenwart eines Mädchens, das einem gefällt. Er wusste, wovon er sprach, denn
seine erste richtige Verabredung mit Emily, der Abend vor viereinhalb Jahren, an dem sie
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