Vorn
war zwar alt und ziemlich heruntergekommen; ihr Bad befand sich sogar im Treppenhaus. Doch in Emilys Zimmern sah man im ersten
Moment, dass darin jemand lebte, der mit viel Sorgfalt das meiste selbst gebaut und renoviert hatte. Tobias fielen auch die
unzähligen Pflanzen auf den Fensterbrettern auf; er selbst hatte in seiner Wohnung nur einen einzigen Farn, dessen Blätter
ständig abfielen und einen bräunlichen Ring um den Blumentopf bildeten, egal, wie oft er ihn goss.
In dem nur für Händler zugänglichen Großmarkt, in dem sie dank der Kundenkarte ihres Vaters einkaufen konnten, entdeckte Tobias
in einem Regal die durchsichtigen Süßigkeitsbehälter mit rotem Deckel, die früher im Lebensmittelladen seines Wohnblocks an
der Kasse gestanden hatten. Als Kind waren ihm die mit Gummischnullern oder Zuckererdbeeren gefüllten Dosen so riesig vorgekommen,
als würden sie ein Vermögen kosten und niemals zur Neige gehen. Jetzt, im Großhandel, waren sie zu Dutzenden übereinandergeschichtet,
und Tobias sah auch, dass sie überraschend wenig kosteten. Emily und er überlegten kurz, ob sie zwei, drei Dosen mit Brausetabletten
als kleines Weihnachtsgeschenk für ihr Büro mitbringen sollten, doch |23| sie wollten die alte Kindheitsvorstellung von der geheimnisvollen, unerschwinglichen Herkunft der Behälter nicht so ohne weiteres
aufgeben und ließen es bleiben. Auch Emily konnte sich in ihrem alten Wohnviertel an einen solchen Laden erinnern, und während
sie durch die langen Gänge des Großmarkts liefen, Unmengen von Glühwein, Plätzchen, Obst und Chips in die Einkaufswagen stapelten,
kamen sie auf ihre Lieblingsplätze in der Kindheit zu sprechen. Tobias sagte irgendwann, er müsse zugeben, mit dreizehn, vierzehn
einen beträchtlichen Teil der Zeit auch in zwielichtigen Wirtshäusern und Stehausschänken verbracht zu haben, weil er ein
paar Jahre lang versessen aufs Flipperspielen gewesen sei. Und mit Erstaunen hörte er, dass Emily eine ähnliche Phase hatte,
dass sie eine Zeitlang sogar für flippersüchtig gehalten wurde. In ihrer Wohnsiedlung gab es offenbar eine Bowlingbahn, in
der sie sich nach der Schule immer mit Freunden zum Flipperspielen verabredete, bis Emilys Eltern ihr eines Nachmittags auf
die Schliche kamen und sie mit einem Monat Hausarrest bestraften. Tobias konnte das nicht glauben, einen ganzen Monat, doch
Emily sagte, das stimme wirklich, ihre Eltern seien oft sehr streng gewesen.
Sie gingen an diesem Abend noch etwas essen, in ein mexikanisches Restaurant nahe der Donnersberger Brücke. In München machten
gerade etliche solcher Lokale auf, Tacos und Margaritas galten als die neueste Entdeckung, und Tobias ging gerne dorthin,
weil er mexikanisches Essen schon lange kannte, von den Ferien bei seinen Verwandten in Kalifornien. Die Lokale hier waren
aber eher Bars statt Restaurants, und das Publikum |24| bestand zum Großteil aus unangenehmen Studentenrunden, die alle halbe Stunden neue Pitcher voller Erdbeer-Daiquiri bestellten.
Tobias erzählte Emily von Los Angeles, wo er als Kind fast jedes Jahr den Sommerurlaub verbracht hatte, und auch sie begann
irgendwann über ihre Familie zu reden, über ihre drei älteren Schwestern und ihre Rolle als Nesthäkchen, das vollkommen aus
der Art geschlagen war. Die anderen – alle mehr als zehn Jahre älter als sie – hatten bereits mit Anfang zwanzig geheiratet
und wohnten jetzt mit ihren zwei oder drei Kindern allesamt unter einem Dach, in dem großen Einfamilienhaus ihrer Eltern.
Emily dagegen hatte schon früh ein völlig eigenständiges Leben geführt, war noch zu Schulzeiten mit ihrem ersten Freund in
ein Wohnmobil gezogen und ein paar Monate später in die erste eigene Wohnung. Nach dem Essen fuhr sie Tobias in ihrer weinroten
Ente nach Hause, und als sie sich verabschiedeten, zeigte sie ihm noch den neuen Schichtplan, der auf der Rückbank lag. »Schau
mal, Tobi«, sagte Emily, »kurz nach Weihnachten haben wir zusammen Nachtschicht. Wollen wir uns davor noch irgendwo treffen?
Die Schicht geht ja erst um halb zwölf los.« Tobias hoffte, dass Emily das absichtlich so gelegt hatte, und er kam plötzlich
auf die Idee, dass sie doch zusammen flippern gehen könnten. Er schlug also das Atzinger vor, eine an sich indiskutable Studentenkneipe
in Schwabing, in der seit Jahrzehnten die gleichen hängengebliebenen Altstudenten vor ihrem Weißbier saßen und der ewige Käsegeruch
von
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