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Vorn

Titel: Vorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Bernard
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der Landshuter Allee, im Osten
     irgendwo auf dem Innsbrucker Ring verliefen die Straßen in meiner Einbildungskraft im Leeren, und ich hatte, bevor ich mit
     dir zusammenkam, auch gar keine Gewissheit darüber, ob sie im Norden tatsächlich aufeinandertreffen würden, ob der Mittlere
     Ring also wirklich ein Ring rund um das Zentrum Münchens war. In der Vorstellung meiner ganzen Kindheit und Jugend hindurch
     war er es jedenfalls nicht; das, was ich von diesem verschlungenen Gebilde kannte (wenn sich meine Eltern etwa verfahren hatten
     und mein Vater auf dem Beifahrersitz meine Mutter anherrschte, sie hätte doch bei der Abzweigung zuvor »auf den Ring müssen«),
     war einfach eine mehrspurige Straße, die an manchen Stellen der Stadt auftauchte und dann wieder verschwand, ein bisschen
     so wie die Isar, die in undurchschaubaren Windungen durch die Stadt floss.
     
    Mit dir aber schärfte sich mein Orientierungsvermögen. Ich bemerkte das immer schon dann, wenn wir von deiner ersten Wohnung
     im Glockenbachviertel auf die Schnellstraße entlang der Isar bogen, die zuerst Wittelsbacher- und dann Widenmeyerstraße heißt
     und |218| von dir nur »Isarparallele« genannt wurde. Die Brücken entlang der Straße verbanden die links und rechts der Isar gelegenen
     Stadtteile Münchens, und wenn wir nach Haidhausen oder nach Berg am Laim zur Arbeit in die Unterkunft fuhren, bist du immer
     über die kleinere Corneliusbrücke gefahren, die ich bis dahin gar nicht gekannt hatte. Meine Eltern nahmen auf dem Weg in
     die östlichen Stadtteile immer die große Isartor- oder Wittelsbacherbrücke: eine Route, die, wie ich plötzlich einsah, umständlich
     und weniger schön war. Inzwischen fahre ich, wenn ich mit dem Auto in dieser Gegend unterwegs bin, grundsätzlich über die
     Corneliusbrücke, und ich denke jedes Mal kurz an dich, wenn ich abbiege, als stünde am Straßenrand ein kleines Gedenkkreuz.
     Und auf dem Mittleren Ring erging es mir in den ersten Monaten mit dir so wie einem Zugezogenen in der Großstadt: Ich erstaunte
     immer wieder darüber, dass eine bestimmte Stelle, an der ich schon häufiger gewesen war, plötzlich mit einer anderen, genauso
     bekannten, unmittelbar zusammenhing. Auf diese Weise wurde mir die nördliche Hälfte des Mittleren Rings bald genauso geläufig
     wie die südliche.
     
    An manchen Tagen, Emily, war ich jetzt schon zuversichtlich, dass es wieder halbwegs gehen könnte. Aber gestern – es war Sonntag
     und schlechtes Wetter – habe ich die Kiste mit den Rechnungen des letzten Jahres zu sortieren begonnen, um die Steuererklärung
     vorzubereiten. Das hätte ich nicht tun sollen. Vor allem der Stapel mit den Restaurantquittungen, chronologisch geordnet,
     las sich plötzlich wie ein Tagebuch der letzten Monate mit dir, wie ein Countdown unserer Trennung. |219| Die Rechnungen zu Beginn des Jahres waren noch unverdächtig, fast nur Belege der Lokale, in die ich immer schon regelmäßig
     gegangen bin: die Pizzeria in meiner Straße, das Schumann’s, das Wirtshaus in der Großmarkthalle oder auch das Tandoori King
     – weißt du noch, dieses indische Restaurant in der Nähe des Tierparks, in dem trotz des guten Essens bei jedem unserer Besuche
     so wenig Gäste saßen, dass wir uns immer fragten, ob es beim nächsten Mal noch geöffnet haben würde? Doch spätestens nach
     unserer langen Russland-Reise im Juni und Juli, die eine wochenlange Lücke inmitten der Belege gerissen hatte, rückte das
     Ende mit großen Schritten näher. Es wurde August (einige Rechnungen von Landgasthöfen waren nun darunter, in die wir abends
     noch mit dem Fahrrad gefahren waren), September, früher Oktober (eine Quittung vom Tag der deutschen Einheit, den wir in den
     Bergen verbracht hatten, vom Jägerwirt in Kochel). Nur eine Woche vor dem Stereolab-Konzert im Backstage – ich habe den Beleg
     hier auf dem Schreibtisch liegen – sind wir offenbar noch einmal in dem indischen Restaurant gewesen. Wie unschuldig das dünne
     Stück Rechnungspapier aussieht, weiß-rosa liniert, mit dunkelblauer Schrift: kein Unterschied zu erkennen zu den vielen anderen
     Tandoori-King-Rechnungen der vergangenen Monate und Jahre. Wir haben die gleichen Gerichte bestellt wie fast immer, zuerst
     die gemischte Vorspeisenplatte, danach Lamm mit Spinat für dich, Huhn mit Safran-Mandel-Sauce für mich, ›Nummer 305‹ (ich
     weiß sie noch heute auswendig). Ein Blanc de Blanc steht auf der Rechnung, ein Bier, dann zweimal

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