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Vorn

Titel: Vorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Bernard
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diesen Satz: »Wollen Sie die Kuchen einzeln oder am Stück?« Ich hatte Mühe, nicht
     mitten in dem Geschäft in Tränen auszubrechen. Etwas Ähnliches ist mir neulich auch in der Konditorei in der |212| Nähe meiner Wohnung passiert, in der wir sonntags manchmal Kuchen holten. Die freundliche Verkäuferin, die sich unsere Gesichter,
     so selten wir kamen, schnell gemerkt hatte, sprach uns doch immer gemeinsam an – erinnerst du dich? »Ihr mögt’s den Guglhupf,
     das weiß ich«, sagte sie jedes Mal, noch bevor ich bestellen konnte; »nehmt’s doch gleich den ganzen, der kostet nur zwölf
     Mark.« Ich würde jetzt auch noch gerne in diese Konditorei gehen. Doch als ich einmal vor ein paar Wochen dort war, ließ sich
     die Verkäuferin nicht davon beirren, dass ich dieses Mal alleine vor ihr stand, und fragte mich wie immer, ob »ihr wieder
     ein paar Stück vom Guglhupf wollt, der schmeckt euch doch so«. Ich bin seitdem nicht mehr dort gewesen.
     
    Was ich an dir von Anfang an so gemocht habe, Emily, war deine Bestimmtheit, diese Kraft, ein eigenes Leben zu führen. Ich
     dagegen hatte, als wir uns kennenlernten, erst zwei Jahre zuvor Abitur gemacht und fühlte mich noch nicht besonders selbständig.
     Immer wieder denke ich an die erste Zeit unseres Zusammenseins zurück; wie du das Einrichten meiner Wohnung in die Hand genommen
     hast. Wenn du umgezogen bist in den Jahren danach, hast du ja immer alle Renovierungsarbeiten selber durchgeführt, und ich
     erinnere mich, dass ich durch dich mit der Zeit auch ein ganz neues Vokabular kennenlernte. Ich hörte zum ersten Mal vom »Bündigmachen«
     und »Einlassen« von Parkettböden und ähnlichen Worten. Überhaupt bekam ich in der ersten Zeit mit dir unzählige kleine Tricks
     mit, Geschicklichkeiten im Alltag: Als wir in einer der ersten Nächte bei mir eine Flasche Prosecco |213| aufmachten und sie nur halb austranken, hast du einen Löffel in die Flasche gesteckt, bevor du sie in den Kühlschrank zurückstelltest.
     Auf meinen fragenden Blick sagtest du mir, dass der Sekt auf diese Weise noch ein paar Tage frisch bleiben würde, was dann
     tatsächlich stimmte.
     
    Besonders imponiert hat mir auch deine Angewohnheit, von deinen Talenten und Fertigkeiten kein besonderes Aufheben zu machen.
     Die Rolle etwa, die Bücher in deinem Leben spielten: Du hast mehr gelesen als fast alle, mit denen ich an der Universität
     Literatur studierte. In dem Winter, als wir zusammenkamen, versuchte ich gerade seit längerem, die »Jahrestage« von Uwe Johnson
     zu lesen; am 21. August, dem Datum, an dem auch der Roman im Jahr 1967 einsetzt, hatte ich angefangen, und ich wollte es eigentlich
     schaffen, ein Jahr lang Tag für Tag die entsprechenden Seiten mitzulesen, bis zum letzten Kapitel vom 20. August 1968. Meine
     Disziplin hatte aber schon an irgendeinem Novembertag nachgelassen, bei einem zwanzig oder dreißig Seiten langen Eintrag über
     das Heimatdorf der Hauptfigur Gesine Cresspahl. Der erste Band der orangefarbenen Edition-Suhrkamp-Ausgabe lag nun seit Wochen
     in deiner Wohnung herum, weil ich mich an manchen Abenden bei dir bemühte, wieder in den Roman reinzukommen und die fast zwei
     Monate, die ich jetzt schon hinterherhing, aufzuholen. Eines Abends nahmst du das Buch mit ins Bett. Vor dem Einschlafen sagtest
     du ja jedes Mal den gleichen Satz – »Ich lese noch zwei, drei Seiten, okay?« –, und am nächsten Morgen beim Frühstück erzähltest
     du mir dann immer, dass du |214| noch dreißig, fünfzig, manchmal auch fast hundert Seiten gelesen hattest. Auf diese Weise warst du mit dem ersten Band der
     »Jahrestage« schon nach ungefähr einer Woche fertig, fragtest mich, ob ich die restlichen Bände bald mitbringen könnte, und
     das spornte wiederum mich an; ich las das Versäumte nach und fand im Lauf des Februars wieder zu meiner Leseweise Tag für
     Tag zurück. Dein Tempo aber war dafür nicht geeignet, du hattest alle vier Bände schon im Frühling durch, und in meinen Germanistikseminaren
     musste ich oft an dich denken, wenn die Leute ihre Referate hielten und schnell deutlich wurde, dass sie die Texte gar nicht
     kannten und sich mit Zusammenfassungen aus der Sekundärliteratur behalfen. Du hattest mit diesem Studium nichts zu tun, hättest
     von dir auch nie behauptet, dass du dich mit Literatur besonders gut auskennst, und hast die ganzen Bücher einfach gelesen.
     
    Ich frage mich jetzt oft, ob ich jemals wieder einen Menschen treffen

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