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Vorn

Titel: Vorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Bernard
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werde, in dessen Gesellschaft ich mich so wohl fühle
     wie mit dir. Alleine unsere ganzen Reisen: Ich war ja anfangs etwas zurückhaltend, was unseren ersten gemeinsamen Urlaub anging.
     Doch dann wurde sofort klar, dass wir beide genau dieselbe Vorstellung von unserem Tagesablauf hatten, und das ist bei allen
     unseren Reisen so geblieben. Die Ruhe und Vertrautheit, die ich in deiner Gegenwart spürte, ging sogar so weit, dass wir zusammen
     im selben Buch lesen konnten. Erinnerst du dich an das verregnete Wochenende am Gardasee vor ein paar Jahren, als wir jeden
     Tag stundenlang in dieser Konditorei saßen, mit einem ganzen Haufen von Maigret-Romanen? Irgendwann war |215| nur noch ein einziges Buch übrig, und wir haben angefangen, es gemeinsam durchzulesen. Ich hätte nie gedacht, dass das gutgehen
     könnte, weil ich normalerweise eine große Abneigung habe, mit anderen Leuten einen Text zu teilen. Im Universitätsseminar
     war es für mich immer unangenehm, wenn der Dozent ein paar Kopien eines Romanauszugs ausgab und sagte, man solle doch bei
     seinem Nachbarn mit hineinschauen; ich war dann, am Ende einer Seite angekommen, immer unsicher, ob der andere schon voller
     Ungeduld wartete oder selbst noch Zeit brauchte, und das machte jede Konzentration zunichte. Sogar wenn ich in der Straßenbahn
     bemerkte, dass mein Sitznachbar in mein Buch oder meine Zeitung schaute, war es für mich fast unmöglich, in Ruhe weiterzulesen.
     Doch jetzt, mit dir in diesem Café in Malcesine, war es plötzlich wie selbstverständlich, sogar einen ganzen Roman gemeinsam
     zu lesen. Bei den ersten Seiten sagte ich noch nach einiger Zeit: ›Fertig? Soll ich umblättern?‹, aber dann wusste ich schnell,
     dass diese Frage gar nicht nötig war.
     
    In meiner Schreibtischschublade liegen die Kuverts mit den ganzen Fotos, die wir auf unseren Reisen gemacht haben. Ich habe
     mich lange Zeit nicht getraut, sie herauszunehmen. Jetzt schaue ich sie manchmal durch, und ich bleibe immer bei einem Bild
     besonders lange hängen. Es ist ein Foto am Ende unseres ersten Kalifornien-Urlaubs. Wir gingen in Los Angeles am Strand entlang,
     in Santa Monica; es war ein trüber Vormittag, und wir wussten, dass unsere Maschine nach Hause schon in ein paar Stunden abfliegen
     würde. Plötzlich hast du angefangen, deine Hand- und Fußabdrücke in |216| den Sand zu malen, in Anspielung auf unseren Spaziergang über den Hollywood Boulevard am Abend zuvor. »Emily with Love, 4. 11. 92 « hast du in den Sand geschrieben: ein Spruch, wie er vor dem Chinese Theatre neben den ganzen Hand- und Fußabdrücken der
     Filmstars steht. Ich habe den Schriftzug im Sand damals fotografiert, und jetzt muss ich bei diesem Bild, diesem Datum immer
     an unsere glücklichste Zeit miteinander denken.
     
    Liebe Emily, als ich mit dir zusammenkam, tat sich für mich eine neue Welt auf, und das sogar im ganz wörtlichen Sinn: Denn
     durch die unterschiedlichen Orte unserer Herkunft in München lernte ich meine eigene Stadt, in der ich über zwanzig Jahre
     gelebt hatte, noch einmal auf völlig andere Weise kennen. Ich war im Süden Münchens aufgewachsen, und meine Orientierung ließ
     an bestimmten Punkten nördlich des Zentrums stark nach. Stadtteile wie Milbertshofen, Moosach, Kieferngarten waren für mich
     nichts als ein Geflecht von Ausfallstraßen durch sprödes Industriegebiet, in die man allenfalls auf dem Rückweg von der Autobahn
     gelangte, mit einer Vielzahl von Bundeswehrkasernen, Autogroßhändlern und Bordellen. In den ersten Monaten mit dir, wenn wir
     mit deinem Auto die großen Möbelgeschäfte abfuhren oder deine Eltern in Kieferngarten besuchten, erhielt ich zum ersten Mal
     ein genaueres Bild vom Norden Münchens. Der Blick auf die Stadt vervollständigte sich; das Fragmentarische meines Orientierungssinns
     in diesen Vierteln löste sich nach und nach auf. Am deutlichsten spürte ich das auf dem Mittleren Ring. Vertraut war mir seit
     je nur seine südliche |217| Hälfte. Wenn ich früher mit meinen Eltern dieses Straßengeflecht benutzte, bogen wir entweder beim Luise-Kiesselbach-Platz
     auf den Ring, Richtung Nordwesten zum Olympiastadion, oder auf der Brudermühlstraße, nach Osten Richtung Giesing und Salzburger
     Autobahn. In den unteren Teilen des Rings kannte ich mich gut aus, und ich hätte den Straßenverlauf in meinem Kopf ohne Unterbrechung
     rekonstruieren können. In der oberen Hälfte jedoch war mein Wissen lückenhaft. Im Westen hinter

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