Vorsatz und Begierde (German Edition)
Vertrautheit ein, aber ich kannte sie mindestens ebenso gut wie die übrigen Mitarbeiter im Werk.«
Er sprach ruhig und ohne die geringste Verlegenheit, so, als berichtete er davon, daß er und Hilary Robarts dieselbe Universität besucht hätten. Rikkards überlegte, ob Dr. Mair erwartete, daß er sich an diesem Eingeständnis festbeißen würde. »War sie beliebt?« fragte er statt dessen.
»Sie war überaus tüchtig. Diese beiden Eigenschaften sind nicht notwendigerweise miteinander gekoppelt, finde ich. Man respektierte sie. Und ich denke, daß diejenigen meiner Mitarbeiter, die mit ihr zu tun hatten, sie mochten. Man wird sie vermissen, wahrscheinlich sogar mehr als eine ihrer offensichtlich populäreren Kolleginnen.«
»Wird sie auch Ihnen fehlen?«
»Uns allen.«
»Wann war diese Affäre zu Ende, Dr. Mair?«
»Vor etwa drei oder vier Monaten.«
»Ohne jeglichen Groll?«
»Ohne Streit und ohne Szenen. Schon vorher hatten wir uns immer seltener getroffen. Auch wenn meine persönliche Zukunft im Moment ungewiß ist, ist es doch unwahrscheinlich, daß ich weiterhin Direktor dieses AKWs bleibe. Zum Abschluß einer Liebesaffäre gelangt man wie zum Ende einer beruflichen Position: Man hat nur noch das Gefühl, daß eine Lebensphase ihr Ende gefunden hat.«
»Hat sie das gleiche empfunden?«
»Ich denke schon. Wir mögen vielleicht bedauert haben, daß es zu Ende war, aber keiner von uns hat sich eingebildet, es sei die große Liebe gewesen, oder erwartet, unsere Beziehung würde von Dauer sein.«
»Gab es da möglicherweise einen anderen Mann?«
»Davon weiß ich nichts. Es gibt allerdings auch keinen Grund, warum ich’s hätte erfahren sollen.«
»Dann mag es Sie überraschen«, fuhr Rikkards fort, »daß sie am Sonntag vormittag ihren Anwalt in Norwich brieflich um einen Termin bat, um mit ihm ihr Testament zu besprechen. Außerdem teilte sie ihm mit, sie würde demnächst heiraten. Wir haben den nicht abgeschickten Brief unter ihren Papieren gefunden.«
Dr. Mair blinzelte ein paarmal, wirkte aber nicht verstört.
»Ja, das überrascht mich«, erwiderte er. »Auch wenn ich nicht genau angeben könnte, warum. Sie lebte hier sehr zurückgezogen. Deswegen kann ich mir schwer vorstellen, wann sie die Zeit oder die Gelegenheit gehabt hätte, eine neue Beziehung anzuknüpfen. Es ist selbstverständlich denkbar, daß ein Bekannter aus ihrer Vergangenheit aufgetaucht war und sie sich wieder angefreundet haben. Es tut mir leid, daß ich Ihnen da nicht weiterhelfen kann.«
Rikkards änderte den Kurs seiner Befragung. »Nach Ansicht der ortsansässigen Bevölkerung war sie Ihnen während der öffentlichen Diskussion um den zweiten Reaktor keine große Hilfe. Sie hat auch bei der offiziellen Untersuchung keine Aussage gemacht, nicht wahr? Ich verstehe nicht, was sie überhaupt mit der ganzen Sache zu tun hatte.«
»Offiziell nichts. Aber bei einer der öffentlichen Werksbesichtigungen ließ sie sich unbedachterweise auf eine Auseinandersetzung mit Störenfrieden ein. Und an einem der Tage der offenen Tür vertrat sie den Wissenschaftler, der sonst die Besucher herumführt, aber wegen Krankheit ausfiel. Sie verhielt sich allzu unbedacht, als man ihr Fragen stellte. Danach verfügte ich, daß sie mit der Öffentlichkeitsarbeit nicht mehr betraut werden sollte.«
»Sie war also ein Mensch, der Widerstand provozierte?« fragte Rikkards.
»So groß war dieser nicht, denke ich, daß er einen Mord hätte auslösen können. Sie ging in ihrer Arbeit auf und fand es schwierig, sich mit dem abzufinden, was sie für bewußte Volksverdummung hielt. Obwohl sie keine wissenschaftliche Ausbildung hatte, eignete sie sich eine beachtliche Sachkenntnis an. Vielleicht hatte sie auch zuviel Respekt vor der Meinung von Experten. Ich habe öfters eingewendet, daß man vernünftigerweise nicht erwarten könne, die Öffentlichkeit würde diese Ansicht teilen. Schließlich haben sogenannte Experten in den letzten Jahren den Leuten alles mögliche weisgemacht, etwa, daß Hochhäuser nicht einstürzen können, daß in der Londoner U-Bahn kein Brand ausbrechen könne, und die Kanalfähren könnten auch nicht kentern.«
Sergeant Oliphant, der bislang geschwiegen hatte, mischte sich ein: »An jenem Tag der offenen Tür war ich unter den Besuchern. Als sie jemand fragte, was sie denn von dem Unfall in Tschernobyl halte, erwiderte sie: ›Es gab doch nur dreißig Tote. Was soll also die Aufregung?‹ Das hat sie doch gesagt, nicht
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