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Vorsatz und Begierde

Vorsatz und Begierde

Titel: Vorsatz und Begierde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P. D. James
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Nun aber, nachdem die Wahrheit aufgedeckt war, hatte sich das Gleichgewicht ihrer Kräfte fast unmerklich verschoben. Er wußte noch nicht so recht, welchen Gebrauch er von seinem Wissen machen sollte. Er hatte die Energie und die Courage zum Handeln gefunden, doch ob er auch couragiert genug sein würde, sie mit seinen Informationen zu konfrontieren, stand auf einem anderen Blatt.
    Den Blick fest auf die Pflastersteine gerichtet, schritt er zielbewußt bis ans Ende der Pont Street, machte dort kehrt und ging wieder zurück. Dabei versuchte er Ordnung in seine aufgewühlten Gefühle zu bringen, die so ineinander verstrickt waren, als kämpften sie gegeneinander um die Oberhand: Erleichterung, Bedauern, Abscheu, Triumph. Dabei war es so einfach gewesen. Von dem Anruf bei der Detektei bis zu der Ausrede für diesen Ausflug nach London hatte er die Hindernisse müheloser bewältigt, als er es jemals für möglich gehalten hätte. Warum also nicht einen Schritt weitergehen? Warum sich nicht mit letzter Sicherheit überzeugen? Er wußte, wie die Haushälterin hieß: Miss Beasley. Er konnte sie um eine Unterredung bitten, behaupten, er habe Caroline vor ein oder zwei Jahren kennengelernt, in Paris etwa, würde gern Verbindung mit ihr aufnehmen, habe aber ihre Adresse verloren. Wenn er seine Erklärungen möglichst einfach hielt und jeder Versuchung, sie auszuschmücken, aus dem Weg ging, bestand überhaupt keine Gefahr für ihn. Daß Caroline den Sommerurlaub 1986 – im selben Jahr, in dem auch er dort gewesen war – in Frankreich verbracht hatte, wußte er. Das war bei ihren ersten Verabredungen zur Sprache gekommen, harmlosem Geplauder über Reisen und Malerei auf der Suche nach einem gemeinsamen Nenner, einem gemeinsamen Interesse. Na ja, wenigstens war er in Paris gewesen. Und hatte den Louvre besichtigt. Er konnte behaupten, sie dort kennengelernt zu haben.
    Dazu brauchte er natürlich einen falschen Namen. Der Vorname seines Vaters würde genügen. Percival. Charles Percival. Es war besser, einen etwas ungewöhnlichen Namen zu wählen; ein allzu gebräuchlicher würde zu offensichtlich falsch klingen. Er komme aus Nottingham, würde er sagen. Weil er die Universität dort besucht hatte und die Stadt kannte. Irgendwie machte ihm die Tatsache, daß er sich die vertrauten Straßen vorstellen konnte, das eigene Phantasieprodukt glaubhafter. Er mußte seine Lügen in einen Anschein von Wahrheit kleiden. Er konnte sagen, er habe dort am Krankenhaus gearbeitet, als Labortechniker. Und wenn sie weitere Fragen stellte, würde er ihnen ausweichen. Aber warum sollte sie weitere Fragen stellen?
    Er zwang sich, die Halle besonders selbstbewußt zu betreten. Vor einem Tag noch wäre es ihm unmöglich gewesen, dem forschenden Blick des Pförtners standzuhalten. Nun jedoch sagte er, von der Hochstimmung des Erfolgs beflügelt: »Ich möchte zu Miss Beasley in Wohnung drei. Sagen Sie ihr, daß ich ein Freund von Miss Caroline Amphlett bin.«
    Der Pförtner verließ seinen Empfangstisch und ging ins Büro zum Telephon. Wer soll mich daran hindern, einfach hinaufzugehen und an die Tür zu klopfen, dachte Jonathan. Dann wurde ihm klar, daß der Pförtner sofort Miss Beasley anrufen und sie veranlassen würde, ihm nicht aufzumachen. Es gab immerhin gewisse Sicherheitsmaßnahmen hier, wenn sie auch nicht besonders strikt waren.
    Nach einer halben Minute kam der Mann wieder heraus. »In Ordnung, Sir«, erklärte er. »Sie können raufgehen. Die Wohnung liegt im ersten Stock.«
    Er verzichtete auf den Lift. Die Doppeltür aus Mahagoni mit der Nummer aus poliertem Messing, zwei Sicherheitsschlössern und einem Spion lag an der Vorderseite des Hauses. Er strich sich rasch über die Haare, klingelte und bemühte sich, den Blick mit scheinbarer Gelassenheit auf den Spion zu richten. Von drinnen hörte er keinen Ton, und die schwere Tür schien, während er wartete, zu einer einschüchternden Barrikade zu werden, die zu durchbrechen nur ein anmaßender Tor versuchen würde. Als er sich dieses Auge vorstellte, das ihn vermutlich durch den Spion beobachtete, mußte er sekundenlang den Wunsch unterdrücken, kurzerhand davonzulaufen. Dann aber vernahm er das leise Klirren einer Kette, das Geräusch eines Schlüssels im Schloß, und die Tür ging auf.
    Seit seinem Entschluß, in der Wohnung vorzusprechen, war er viel zu sehr mit dem Ersinnen seiner Story beschäftigt gewesen, um einen Gedanken an Miss Beasley zu verschwenden. Der Ausdruck

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