Vorstadtprinzessin
Leni. Sie ging zu einem alten Hollandrad, das an der Hauswand lehnte, ohne gesichert zu sein. »Hab ich mir von unserer Haushälterin ausgeliehen«, sagte sie, »heute ist sie mit dem Auto abgeholt worden.«
»Apropos Auto«, sagte Lucky. »Ich setze mich dann schon mal ins Tre Castagne und treffe euch da.«
»Ich habe versprochen, nicht spät zu Hause zu sein«, sagte Theo.
»Ich komme auch nicht mehr«, sagte Leni.
»Dann tretet mal schön«, sagte Lucky und stieg ein. Er überlegte kurz, ob er langsam hinter ihnen herfahren sollte, doch dann schaltete er die Scheinwerfer ein und drehte den Schlüssel, bereit, einen schnellen Start hinzulegen. In der dunklen Ecke zum Nachbargrundstück standen zwei. Lucky wendete und das Licht der Scheinwerfer streifte die beiden. Er hätte schwören können, dass es die Wirtin war und dieser Sänger, der sich ihm zur Seite gestellt hatte, als die Chorheinis nervten.
Irgendwas irritierte ihn an diesem Bild. Wirkte nicht gerade harmonisch. Eher, als ob die sich stritten. Doch Lucky schob alle Gedanken daran beiseite. Dass Leni so selbstverständlich mit Theo davonradelte, irritierte ihn noch viel mehr.
Lucky hupte, als er an Leni und Theo vorbeikam.
»Erzähl mir alles, was du von Max weißt«, sagte Leni da gerade.
Leni und er fuhren Seite an Seite auf dem asphaltierten Weg, der neben der Straße entlanglief, und Theo staunte noch immer, dass Leni auf einem alten Fahrrad saß und nicht am Steuer eines neuen Cabrios.
»Paps will nicht, dass ich mit siebzehn den Führerschein mache«, sagte Leni. »Er hat keine Zeit, sich neben mich zu setzen und den Aufpasser zu spielen, wenn ich das Auto fahre.«
»Du bist noch keine achtzehn?«
»Hast du das geglaubt?«, fragte Leni.
Ja. Das hatte er geglaubt. Den Spruch mit den Kleinkindern hätte sie sich sparen können. Leni dachte wohl nicht zu viel darüber nach, ob sie andere vor den Kopf stieß.
»Du gehst nicht mehr zur Schule?«, fragte er.
»Vielleicht fange ich nach den Sommerferien noch mal an. Ich habe nach dem ersten Halbjahr aufgehört, als der Umzug anstand.«
»Und das machen die mit?«
»Ich hatte ein Attest«, sagte Leni. »Hör auf mit der Fragerei.«
Theo sann einen Augenblick über das Attest nach, bevor er anfing, von Max zu erzählen. Vom Tümpel. Dem versunkenen Gummistiefel. Ihren heimlichen Spielen im Wald.
Von den Faltern, denen Max die Flügel ausgerissen hatte, den Käfern, die er in Konfitüregläsern erstickte, erzählte er nicht. Er selbst war doch der Freak. Auch Lucky hatte ihn für einen kompletten Spinner gehalten, als Theo den Käfern ein Grab grub. Theo war zu verlegen gewesen, noch das kleine Grabkreuz zu basteln, und hatte die Eisstiele in seiner Tasche verschwinden lassen.
»Max ist eigentlich ein netter Typ«, hörte er sich sagen, als sie vor Lenis Haus ankamen. Hell beleuchtet. Ein Saxophon klang aus den offenen Fenstern. Sah aus wie eine Hochseeyacht, dieses Haus.
»Paps ist da«, sagte Leni. Sie stieg vom Fahrrad und schob es vor die Garagenauffahrt. Theo stand auf der Straße und dachte, dass er Leni zum Abschied gern umarmt hätte. Umarmten sich nicht alle dauernd? Als Leni die Tür aufschloss, drehte sie sich um und schien erstaunt, Theo noch dastehen zu sehen.
»Ich denke, Max ist einfach ein toller Typ«, sagte sie und ging ins Haus.
Lenis Vater
L enis Vater war achtundvierzig Jahre alt und sah älter aus, als er war. Das letzte Jahr hatte Kraft gekostet. Die Trennung von Lenis Mutter, die in das Land ihrer Kindheit zurückgegangen war. Frankreichs Süden. Die Sonne. Das Mittelmeer. Hatte er je damit konkurrieren können? Ein Geschäftsmann aus dem Norden Deutschlands, der zu viel arbeitete, spät nach Hause kam, keine Lust auf Vergnügen hatte?
Er kompensierte vieles mit dem Geld, das er verdiente. Das Haus. Die Autos. Der Luxus, in dem er Leni leben ließ. Erlaubte er ihr zu viel? Die nervöse Gereiztheit, die Leni abhielt, in die Schule zurückzugehen. Launen, hatte die Lehrerin gesagt. Depressive Verstimmung, der Arzt.
Ausgelöst durch das Verlassenwerden. »Au revoir, ma petite chère. Du kannst mich jederzeit besuchen und dir das Haus in Gassin mit meinen Liebhabern teilen.«
Nein. So hatte Lenis Mutter das sicherlich nicht gesagt. Das stellte sich ihr Vater nur vor, als er durch den Garten ging, an den weißen Rosen vorbei und dem Thymian, der zwischen den Rosenstöcken wuchs. Dem Lavendel, dem Oleander. Er wartete auf Leni. Da draußen lief ein Mädchenmörder
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