Vorstadtprinzessin
herum und seine siebzehnjährige Tochter hinterließ nicht einmal eine Nachricht, wo sie verdammt noch mal steckte.
Er hielt das Glas mit dem Wein in der Hand und hörte dem Saxophon zu. Die Hand mit dem Glas zitterte.
Leni war so unberechenbar geworden.
War es eine Erleichterung, die er fühlte, als er ihre Stimme hörte?
»Hallo Paps. Bist du im Garten?« Eine große Erleichterung, o ja, doch Lenis Vater hatte das ungute Gefühl, etwas nur aufgeschoben zu haben.
Lüttich
E r hatte sich in die Akte Kati Lindner vertieft und die Aussage des Zeugen Sigi Gerhard gelesen, der zu der Zeit »der Ire« genannt worden war. Kati hatte Philosophie studiert, wie all die anderen in ihrem Kreis. Ihr Mörder hatte als Vertreter gearbeitet, ein Reisender in Sachen Textilien, er war ihr in einer Barmbeker Kneipe begegnet. Sigi Gerhard war in keinem Moment verdächtigt worden.
Ein ehemaliger Student der Philosophie, der sich die roten Haare schwarz färbte und in seinem Eiscafé am Stadtrand den Italiener gab und tiefgekühlte Pizza anbot. Des Lebens verschlungene Wege.
Sigi Gerhard stand zum zweiten Mal in seinem Leben am Rande eines Mordgeschehens. Kati hatte er gekannt. Zu Sarah gab es die räumliche Nähe zum Tatort.
Lüttich legte die Akte zur Seite und trat ans Fenster. Fast schon ein Nachthimmel. Er hatte die Dämmerung verpasst. In einer Woche war Mittsommer. Warum war ihm unbehaglich, wenn er daran dachte? Nichts wies darauf hin, dass sie es mit einem Serienmörder zu tun hatten, und wenn der schlimmste Fall eintrat und er ein zweites Mal tötete, dann konnte das an jedem anderen Tag sein.
Max Oldelev hatte sich seit Mittwochabend nicht bei seiner Mutter blicken lassen. Hätte er ihn längst vorladen sollen? Lüttich seufzte. Diesen Lukas würde er sich noch mal vornehmen. Der schien mehr zu wissen als die Mutter. Er sah auf die Uhr, die auf seinem Schreibtisch stand. Kurz nach halb elf. Nein. Er wollte nicht den bösen Cop geben und die ganze Familie Oldelev zu später Stunde verschrecken.
Morgen würde es bei Max zur Sache gehen.
Lüttich hatte eigentlich nur seine Jacke von der Stuhllehne nehmen wollen, um endlich diesen Arbeitstag zu beenden, doch sein Blick fiel auf das große Kuvert, das auf dem Schreibtisch lag. Die Bilder der toten Sarah. Er zog die Fotografien aus dem Umschlag und betrachtete sie, als sähe er sie zum ersten Mal. Er hatte das Gefühl, es Sarah schuldig zu sein.
Auf den ersten beiden Bildern blieb der Kopf vom Farn verborgen. Ihr Körper war nur bis zur Brust zu sehen. Der Tüllrock von Hennes und Mauritz. Die nackten Beine. Die Fellstiefel. Sie habe diese Stiefel noch nie gesehen, hatte ihre Mutter ausgesagt. Die Winterstiefel ihrer Tochter seien aus wasserdichtem Gore Tex. Sonst gäbe es nur noch ein Paar kurze Stiefel mit Fransen. Nicht wirklich für den Winter geeignet.
Sarahs Hals. Fleckförmige bräunliche Hautverfärbungen. Kleine dunkle Halbmonde, Spuren von Fingernägeln. Sarahs Gesicht war hell und nicht aufgedunsen, wie es sonst oft der Fall war. Das Haar lag wie ein Fächer um ihren Kopf. Ein Heiligenschein, dachte Lüttich.
Das dunkle Haar auf der stacheligen Frucht des Wacholders kam ihm in den Sinn. Die festgestellte DNA fand sich in keiner Kartei.
Lüttich schob die Abzüge zurück in den Umschlag und nahm die Jacke vom Stuhl. Verließ das Büro und ging den Flur entlang. Grüßte einen Kollegen, der gerade einen Kaffee aus dem Automaten holte.
Hatte er bei Kati Lindner nicht auch gedacht, dass es eine zweite Tote geben würde? Er hatte sich getäuscht damals.
Lucky arbeitete unter einem Audi, der auf einer der Hebebühnen stand, und war gerade dabei, die Bremsflüssigkeit abzulassen, als Lüttich in die Werkstatt kam. Lucky blickte ihn verlegen an. Machte garantiert keinen guten Eindruck bei der Chefin, wenn der Kommissar hier aufkreuzte. Wenigstens war der Werkstattmeister nicht da.
»Ihre Mutter sagte mir, dass ich Sie hier finde«, sagte Lüttich.
Das Gespräch mit ihr war wenig aufschlussreich gewesen, wie schon beim ersten Mal. Am Ende hatte sie ihm Kinderfotos von Max gezeigt.
»Lukas, ich will von Ihnen wissen, wo sich Ihr Bruder Max aufhält.«
Lucky zog ein Tuch aus der Tasche seines Overalls und wischte sich die schmutzigen Hände ab. »Warum denken Sie, dass ich das weiß?«
Lüttich betrachtete den sommersprossigen Jungen, in dessen blauen Augen etwas aufblitzte, das er gut kannte. Angst.
»Was fürchten Sie, Lukas?«
Lucky stopfte das Tuch in
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