Vortex: Roman (German Edition)
irrte sie sich.
Die Rettungskapsel hatte das Gras ringsum verbrannt. Außen qualmte sie noch und innen war sie viel zu heiß, um auch nur vorübergehend als Behausung zu dienen. Treya und ich luden aus, was sich zu bergen lohnte. Während die Kapsel großzügig mit Arzneimitteln und medizinischem Gerät ausgestattet war (zumindest hielt ich die Sachen dafür), schien man an dem, was Treya als Lebensmittel identifizierte, gespart zu haben. Ich schnappte mir jede Packung, auf die sie zeigte, und wir stapelten alles unter einem nahen Baum (eine Art, die ich nicht wiedererkannte). Der Baum war alles, was wir im Moment als Zuflucht brauchten. Die Luft war warm, der Himmel klar.
Trotz der körperlichen Anstrengung ging es mir einigermaßen gut, viel besser als nach meinem ersten Erwachen in der Wüste. Ich war weder müde noch sonderlich besorgt, wohl dank der Medikamente, mit denen mich Treya vollgepumpt hatte. Ich fühlte mich aber auch nicht betäubt – ich war ruhig und verspürte nicht die geringste Lust, über aktuelle Bedrohungen nachzudenken. Ich sah zu, wie Treyas Schnitte und Schrammen verheilten, als sie die Verletzungen mit Salbe betupfte. Dann klebte sie sich eine blaue Glasröhre an die Innenseite des Arms, und kurz darauf machte sie einen genauso gesunden Eindruck wie ich – nur die Traurigkeit versteinerte nach wie vor ihr Gesicht.
Während die Sonne weiter über den Horizont stieg, zeigte sie uns immer mehr vom Ort unserer Landung. Es war eine herrliche Landschaft. Als ich klein war, las mir meine Mutter immer aus einer illustrierten Kinderbibel vor, und diese Insel erinnerte mich an Aquarellbilder von Eden – Eden vor dem Sündenfall. Wogende Wiesen voller Klee im Wechsel mit Dickichten aus Obstbäumen, wohin man auch blickte. Allerdings keine Lämmer und Löwen. Oder Menschen oder Straßen. Nicht einmal ein Pfad.
»Es wäre schön«, sagte ich, »wenn du mir helfen könntest, das alles ein bisschen besser zu verstehen.«
»Darauf bin ich spezialisiert – aber ohne das Netzwerk ist es nicht einfach. Wo soll ich anfangen?«
»Stell dir einfach vor, ich wäre ein völlig Fremder.«
Sie blickte in den Himmel, auf die Unheil verkündende Rauchsäule windwärts. In ihren Augen spiegelten sich die Wolken. »Gut«, sagte sie. »Ich erzähle dir alles, was ich weiß. So lange, bis man uns findet.«
Vox wurde von einer Gemeinschaft aus Frauen und Männern errichtet und bevölkert, die glaubten, es sei ihre Bestimmung, zur Erde zu reisen und mit den Hypothetischen in Verbindung zu treten.
Das war vor vier Welten und fünf Jahrhunderten, sagte Treya. Seither verfolgt Vox unerschütterlich seinen Plan. Durchquerte drei Torbögen, schloss vorüber gehende Bündnisse, bekämpfte seine Gegner, integrierte neue Gemeinschaften auf neuen, künstlichen Inseln – bis zu seiner gegenwärtigen Form als Vox-Archipel.
Seine Gegner – die »kortikalen Demokratien« – waren der Auffassung, jeder Versuch, die Aufmerksamkeit der Hypothetischen zu erregen, sei nicht nur zum Scheitern verurteilt, sondern grenze an Selbstmord – und das nicht nur für Vox. Diese Meinungsverschiedenheit war zu kriegerischen Auseinandersetzungen eskaliert, und zweimal in den letzten fünfhundert Jahren hatte man Vox nahezu vernichtet. Doch die Bevölkerung von Vox hatte sich als disziplinierter und klüger als ihre Gegner erwiesen – so jedenfalls verstand ich Treya.
Als ihre atemlose Erzählung ein wenig an Tempo verlor, sagte ich: »Wie kam es dazu, dass du mich aus der Wüste geholt hast?«
»Das war von Anfang an geplant, lange bevor ich geboren wurde.«
»Und du wusstest, dass ich da war?«
»Aus Erfahrung und Beobachtung wissen wir, wie sich der ›Körper‹ der Hypothetischen erneuert. Wir haben geologische Beweise, dass sich der Zyklus alle 9875 Jahre wiederholt. Und aus historischen Aufzeichnungen war uns bekannt, dass man in der äquatorianischen Wüste bestimmte Menschen – auch dich – in den Erneuerungszyklus aufgenommen hatte. Was hineingenommen wird, wird auch wieder abgegeben. Das war fast auf die Stunde genau vorhergesagt.« In Treyas Stimme schwang Ehrfurcht. »Du warst bei den Hypothetischen. Und deshalb brauchen wir dich.«
»Mich? Wozu?«
»Der Torbogen, der Äquatoria mit der Erde verbindet, funktioniert schon seit Jahrhunderten nicht mehr. Seither ist niemand mehr auf der Erde gewesen. Aber wir glauben, dass wir den Übergang schaffen, wenn wir dich und die anderen bei uns haben. Verstehst du?«
Ich
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