Vortex: Roman (German Edition)
Lippen wurden schmal, auch die Augen. Du bist nicht wie andere Menschen, hatte sie gesagt, und so war es. Als schöpfe er aus einem tiefen Reservoir an Ruhe – nur dass es diesmal keine Ruhe war, sondern wilde Entschlossenheit.
20
TURK
1.
Ich kam zu Bewusstsein und sah, weder wach noch schlafend, einen Menschen in Flammen – einen Mann, der in einer brennenden Lache tanzte und durch das Flirren der Luft zu mir herüberstarrte.
Die Vision hätte ein Albtraum sein können. Aber sie war kein Traum. Sie war eine Erinnerung.
Das Operationsteam hatte mir das limbische Implantat vorher gezeigt. Ich glaube, sie haben mein Entsetzen für präoperative Angst gehalten.
Der Netzknoten war eine schwarze Scheibe von ein paar Zentimetern Durchmesser und weniger als einem Zentimeter Dicke. Sie war übersät mit stecknadelkopfgroßen Knötchen, aus denen künstliche Nervenfasern wachsen würden, wenn der Netzknoten eine ausreichende Blutversorgung durch die umliegenden Kapillaren gewährleistete. Sowie der Knoten implantiert war, würde er Verbindung mit dem Netzwerk aufnehmen, und binnen Tagen würden die künstlichen Nervenfasern ans Rückenmark andocken und anfangen, die anvisierten Hirnregionen zu infiltrieren.
Die Ärzte wollten wissen, ob ich das alles verstanden hätte. Ich bejahte.
Dann der Stich einer Betäubungsspritze, ein kalter Tupfer im Genick – und ehe der Chirurg sein Skalpell ansetzte, umfing mich tiefe Bewusstlosigkeit.
Der brennende Mann war Nachtwächter im Lagerhaus meines Vaters gewesen.
Für mich ein Fremder. Tötung ohne Vorsatz; vor Gericht wäre die Anklage wahrscheinlich von Mord auf Totschlag herabgestuft worden. Aber ich bin nie angeklagt worden.
Zweimal in meinem Leben hatte ich diese Geschichte erzählt. Das eine Mal, als ich betrunken, das andere Mal, als ich nüchtern war; das eine Mal einem Fremden, das andere Mal einer Frau, in die ich mich verliebt hatte. In beiden Fällen hatte ich nicht alles erzählt und auch nicht immer die Wahrheit. Selbst meine aufrichtigsten Geständnisse scheiterten letzten Endes an Lügen.
Die Menschen, denen ich gebeichtet hatte, waren seit zehntausend Jahren tot, aber dieser eine Tote hatte sich in meinem Gewissen verbarrikadiert, wo er nie aufgehört hatte zu brennen.
Und jetzt hatte ich den Schlüssel zu meinem Gewissen dem Coryphaeus überlassen und wusste nicht, was er damit anstellen würde.
2.
Die erste Veränderung nach der Operation bemerkte ich nicht an mir, sondern an den anderen, besonders in ihren Gesichtern.
Ich spürte die Nebenwirkungen, über die man mich aufgeklärt hatte – vorübergehender Schwindel, Appetitlosigkeit –, aber sie waren nicht der Rede wert und legten sich rasch wieder. Was mir Angst machte, war nicht das, was ich spürte, sondern das, was ich nicht mehr spürte – was ich vielleicht eingebüßt hatte, ohne zu wissen, dass ich es eingebüßt hatte. Ich stellte jeden unbedachten Impuls infrage, blieb tagelang für mich und redete nur das Nötigste mit Allison (die mich mit trauriger Verachtung strafte, die hoffentlich nur gespielt war). Wir wussten beide, was zu tun war; wir wussten beide, dass ich noch nicht so weit war.
Die Ärzte hatten mir »interaktives Willenstraining« verordnet: Ich sollte mich darin üben, netzknotenempfindliche Steuerelemente anzusprechen – was damit anfing, durch eine Kombination aus Berührung und Willen eine grafische Anzeige einzuschalten. Das waren genau die Fertigkeiten, die ich brauchte, um uns von hier fortzufliegen, also trainierte ich mich eine ziemlich steile Lernkurve hinauf. Oscar ließ sich von Zeit zu Zeit blicken, um meine Fortschritte zu begutachten, und bei einem seiner Besuche brachte er mir eine Auswahl an Lernspielzeug für voxische Kinder mit: Dinge, die auf meinen Befehl hin ihre Farbe wechselten oder Musik machten – nur dass sie es meistens nicht taten. Der Knoten war immer noch dabei, Schlüsselbereiche meines Gehirns zu unterwandern, war immer noch damit beschäftigt, die Aktivität in bestimmten Regionen zu erweitern oder zu dämpfen; noch nicht alle erforderlichen Feedback-Schleifen waren etabliert oder stabil genug. Oscar mahnte zur Geduld.
Als ich schließlich aufhörte, mich auf Steuerelemente zu konzentrieren, und mich nach draußen wagte, begriff ich, was der Knoten wirklich bewirkt hatte. Dutzende Male war ich in diesen Korridoren unterwegs gewesen, hatte diese Stufen und Terrassen überquert, doch plötzlich war mir, als hätte ich sie noch nie
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