Vortex: Roman (German Edition)
richtig gesehen. Die Gesichter der Leute, an denen ich vorüberkam, schienen sich in ihrer nonverbalen Beredsamkeit zu sonnen; auf einmal konnte ich die Gemütsverfassung von Fremden lesen, als wären wir alte Bekannte. Die Ärzte hatten mich darauf vorbereitet, aber da sie ihre Erklärungen in Ausdrücke wie »amygdalische Verlinkung« und »Überschuss an Spiegelneuronen« und »chiasmische Induktion« (Oscars Übersetzungen) fassten, hatte ich tatsächlich kaum etwas kapiert. Jetzt war die Wirkung einfach überwältigend.
Ich beschloss, auf einen der hoch gelegenen Plätze der Stadt zu fahren, weg von all den Menschen. Den vertikalen Transit von Vox zu benutzen, war wie das Fahren mit einem Aufzug, nur dass der Aufzug die Größe eines U-Bahn-Wagens hatte. Die Frau mir gegenüber hielt ein kleines Kind auf dem Schoß und lächelte mich an. Es war ein Lächeln, das man einem liebenswürdigen Fremden gegenüber an den Tag legt, nur dass wir uns eigentlich nicht fremd waren – wir waren durch das Netzwerk miteinander verbunden und tauschten wortlos Befindlichkeiten aus. Ihre ruhelosen Augen und die wechselnde An- und Entspannung ihres Körpers verrieten mir, dass sie Angst vor der Zukunft hatte – vor Kurzem hatte es geheißen, die Maschinen der Hypothetischen würden sich immer schneller auf uns zubewegen –, aber sie unterwarf sich demütig jedem Schicksal, das die Propheten ihr auferlegten. Dann, als sie ihren Sohn anblickte, wurde ihr Unbehagen konkreter. Der Junge war fünf oder sechs Monate alt, und sein limbisches Implantat war noch ein kleiner rosaroter Höcker hinten an der Schädelbasis. Er sendete einfachste Bedürfnisse und absolute Abhängigkeit – und seine Mutter sträubte sich, ihn der Obhut der Hypothetischen anzuvertrauen, egal für wie wohlwollend sie diese Wesen hielt. Immer wenn sie ihren kleinen Sohn in den Armen hielt, befiel sie diese sündige Furcht.
Ich spürte die wohltuende Euphorie des Coryphaeus durch Mutter und Kind fließen – im Widerspruch zur Körpersprache der beiden. Das war zermürbend. Und natürlich spürten sie meine Reaktion so deutlich wie ich die ihre. Die Mutter runzelte die Stirn und blickte in eine andere Richtung, als hätte sie etwas höchst Ärgerliches gesehen. Das Kind krümmte sich gegen ihren Körper.
An der nächsten Haltestelle ergriff ich die Flucht.
Als mir wieder einmal das Dach auf den Kopf fiel, war es Nacht. Die Korridore waren düster und praktisch menschenleer. Ich hatte den ganzen Tag über mit Netzwerkschnittstellen gearbeitet und war todmüde. Todmüde und hellwach. An Schlaf war nicht zu denken.
Die Drohnen hatten gemeldet, dass die Maschinen der Hypothetischen das transantarktische Gebirge schneller als erwartet überquerten. Im Wilkes-Becken hatten die Maschinen wie schwerfällige feste Körper ausgesehen, doch als sie auf zerklüftetes Gelände stießen, verformten sie sich, um große Hindernisse zu überwinden. Ja, in unwegsamem Terrain schienen sie sich wie eine viskose Flüssigkeit zu bewegen, flossen konturlos Engpässe hinauf und steile Gefälle hinab. Die geschätzte Zeit für ihre Begegnung mit Vox wurde weiter nach unten korrigiert.
Die wenigen Menschen, denen ich in dieser Nacht begegnete, strotzten vor widerstreitenden Gefühlen – für mich loderten ihre Gesichter wie Fackeln –, und ich beeilte mich, an ihnen vorbeizukommen. Ich begriff allmählich, was Allison unter kollektivem Wahnsinn verstand. Es war nicht nur Euphorie, was der Coryphaeus verteilte: Angst schwelte im voxischen Kollektiv, so schwer zu ersticken wie ein Feuer in einem Kohleflöz. Ich kam an einem Wartungsmonteur vorbei, dem sie buchstäblich aus dem Gesicht strahlte, ein stacheliger Halo aus Ehrfurcht und Panik. Und ich spürte es auch, ein Druck so unterschwellig und beharrlich wie mein Herzschlag: die Sehnsucht nach einem besseren, umfassenderen Dasein, die mit dem Argwohn rang, das, was sich da aus der antarktischen Wüste näherte, könne nichts anderes sein als ein schneller, scheußlicher Tod.
Allison war wach, als ich wieder heimkam, und sie war nicht allein. Isaac Dvali war bei ihr.
Ich hatte bereits von seiner wundersamen Genesung gehört und von seiner Unterstützung der voxischen Prophezeiungen, die ihn zum Staatshelden machte. Sein Konterfei war allgegenwärtig in Vox-Core.
Isaac war ohne seine Aufpasser gekommen. Er lächelte Allison an, und sie lächelte mich an. »Wir können reden!«, sagte sie.
Was keinen Sinn ergab. Ich blickte
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