Vorübergehend tot
beunruhigende Dinge erfahren: Sam begehrte mich, das war das eine, und ich konnte seine Gedanken nicht annähernd so deutlich hören wie die anderer Menschen. Zwar hatte ich einen groben Eindruck von dem erhalten, was er empfand, aber einzelne Gedanken hatte ich nicht gehört. Mehr wie ein Blick auf ein Stimmungsbarometer, wenn Sie verstehen, was ich meine - im Gegensatz zu einem Fax, auf dem man alle Details nachlesen kann.
Was sollte ich nun also mit meinem neuen Wissen anfangen?
Gar nichts!
Sam war für mich nie ein Mann fürs Bett gewesen - zumindest nicht für mein Bett -, und das aus einer Vielzahl von Gründen. Von denen war der grundlegendste der, daß ich überhaupt keinen Menschen auf Bettauglichkeit hin ansah, und das nicht, weil mir die Hormone gefehlt hätten - Gott bewahre, eher das Gegenteil, aber ich halte meine Hormone stets in Schach, denn Sex ist für mich das reinste Desaster. Können Sie sich vorstellen, jeden einzelnen Gedanken Ihres Sexualpartners zu kennen? Genau. So etwa „Mein Gott, was für ein Muttermal ... und ihr Hintern ist wirklich ein bißchen fett. Ich wünschte, sie würde weiter links ... warum merkt sie das denn nicht!“ Ich denke, Sie bekommen eine ungefähre Vorstellung. So etwas kühlt hitzige Gefühle ungeheuer ab, das können Sie mir glauben, und es ist völlig unmöglich, ein mentales Visier zugeklappt zu halten, wenn man mit jemandem schläft.
Dazu kommt, daß ich Sam als Chef mag und meine Arbeit gern tue. Sie sorgt dafür, daß ich aktiv bleibe und aus dem Haus komme und Geld verdiene und nicht zur Einsiedlerin werde, wie meine Oma immer befürchtet. Büroarbeit ist sehr anstrengend für mich, und eine Ausbildung am College war überhaupt nicht in Frage gekommen, denn die dafür notwendige ausdauernde Konzentration hätte mich förmlich ausgelaugt.
Den Ansturm des Begehrens, den ich bei Sam gespürt hatte, wollte ich von daher erst einmal lediglich in meinem Kopf bewegen. Es war ja nun nicht so, als hätte er mir verbal einen Antrag gemacht oder mich im Lagerraum leidenschaftlich zu Boden geworfen. Lediglich gespürt hatte ich seine Gefühle, und so konnte ich sie, wenn mir danach zumute war, auch ignorieren. Ich wußte Sams Feingefühl zu schätzen und fragte mich, ob er mich wohl absichtlich berührt hatte; ob er wußte, was ich war.
Also sorgte ich in dieser Nacht dafür, daß ich nie mit meinem Chef allein war. Ich muß zugeben, daß mich der Vorfall ziemlich aufgewühlt hatte.
* * *
In den beiden darauffolgenden Nächten ging es schon besser. Sam und ich fanden zu unserem gewohnten, vertrauten Umgangston zurück. Ich war erleichtert, ich war enttäuscht, und ich war pausenlos auf den Beinen: Der Mord an Maudette bescherte unserem Lokal hervorragende Umsätze. Alle möglichen Gerüchte schwirrten in Bon Temps umher, und das Nachrichtenteam von Shreveport brachte einen kleinen Beitrag über das grausame Ableben der Maudette Pickens. Ich nahm nicht an Maudettes Beerdigung teil, wohl aber meine Großmutter, die mir erzählte, die Kirche sei proppenvoll gewesen. Arme, plumpe Maudette mit den zerbissenen Oberschenkeln; tot war sie wesentlich interessanter, als sie es lebend je gewesen war.
Mir standen als nächstes zwei freie Tage zu, weshalb ich mir Sorgen machte, ob mir so eine Begegnung mit Bill, dem Vampir, entgehen könnte. Ich mußte ihm doch die Bitte meiner Großmutter übermitteln. Er war nicht wieder im Merlottes aufgetaucht, weswegen ich mich bereits fragte, ob er überhaupt je wieder vorbeischauen würde.
Auch Mack und Denise waren seit jenem Abend nicht wieder im Merlottes gewesen, aber Rene Lenier und Hoyt Fortenberry hatten dafür gesorgt, daß ich erfuhr, welche schrecklichen Dinge mir die beiden anzutun gedachten. Wobei ich nicht sagen kann, inwiefern mich der Gedanke daran wirklich beunruhigte. Die Ratten zählten für mich zum kriminellen Abschaum, der nun einmal die Autobahnen und Wohnwagenparks Amerikas mitbevölkert, und der nie über genug Grips oder Moral verfügt, seßhaft zu werden und einer produktiven Arbeit nachzugehen. Solche Leute waren meiner Meinung nach wertloser als ein Sack Bohnen und leisteten nie auch nur den geringsten positiven Beitrag für die Menschheit. Ich tat also Rene Leniers Warnungen mit einem Achselzucken ab.
Aber er genoß es sichtlich, die Warnung zu übermitteln. Bei Rene handelte es sich, ähnlich wie bei Sam, um einen eher zierlichen Mann. Im Gegensatz zu Sam mit den rosigen Wangen und dem blonden Schopf
Weitere Kostenlose Bücher