Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vorübergehend tot

Vorübergehend tot

Titel: Vorübergehend tot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlaine Harris
Vom Netzwerk:
verziehen, um mir nicht aus Versehen den Stift ins Auge zu stechen. So klang meine Stimme etwas verzerrt, als würde ich gerade für einen Auftritt in einem Horrorfilm proben.
    „Meinst du, er ... er erinnert sich vielleicht noch an den Krieg?“
    An welchen Krieg, das brauchte ich gar nicht zu fragen. Immerhin war Oma eingetragenes Mitglied der Nachkommen ruhmreicher Toter.
    „Könnte sein“, sagte ich und drehte mein Gesicht vor dem Spiegel hin und her, um sicherzugehen, daß ich den Lidschatten gleichmäßig aufgetragen hatte.
    „Ob er einmal vorbeikommen und einen kleinen Vortrag halten könnte? Wir könnten dafür eine Extraveranstaltung planen.“
    „Eine nächtliche Veranstaltung“, rief ich ihr ins Gedächtnis.
    „Ja! Das müßte dann wohl so sein.“ In der Regel trafen sich die Nachkommen zur Mittagsstunde in der Leihbücherei, wobei jeder seine eigenen belegten Brote mitbrachte.
    Ich dachte über die Sache nach. Den Vampir direkt zu bitten, als Dank für die Errettung vor dem Ausbluten im Verein meiner Oma einen Vortrag zu halten, wäre grob unhöflich gewesen, aber vielleicht würde eine kleine Andeutung reichen, um ihn von selbst darauf zu bringen? Gern tat ich es nicht, aber Oma zuliebe würde ich es versuchen. „Ich frage ihn, wenn er das nächste Mal in die Kneipe kommt“, versprach ich.
    „Er könnte auch hierher kommen, ich zeichne seine Erinnerungen dann auf Band auf.“ Ich hörte förmlich, wie Großmutters Verstand auf Hochtouren lief. Was für einen Coup sie da unter Umständen würde landen können! „Das wäre doch so interessant für die anderen Clubmitglieder“, fügte sie lammfromm hinzu.
    Mühsam unterdrückte ich ein Kichern. „Ich sage es ihm“, versprach ich noch einmal. „Wir werden ja sehen.“
    Als ich ging, war Oma ganz klar damit beschäftigt, ihre Eier bereits zu zählen, noch ehe die Hühner sie gelegt hatten.
    * * *
    Ich hatte nicht daran gedacht, daß Rene Lenier ja auch Sam die Geschichte mit der Schlägerei auf dem Parkplatz erzählt haben könnte. Aber dieser Rene war ein fleißiges Bienchen gewesen. Als ich am Nachmittag zur Arbeit kam, lag Aufregung in der Luft, ich ging jedoch davon aus, daß das mit Maudettes Ermordung zu tun hatte. Leider mußte ich feststellen, daß meine Annahme in diesem Fall falsch war.
    Sobald ich durch die Tür war, nahm Sam mich beiseite und drängte mich in den Lagerraum. Er war stocksauer und machte mich nach Strich und Faden fertig.
    Noch nie war Sam wütend auf mich gewesen; so war ich bald den Tränen nah.
    „Wenn du denkst, ein Kunde von uns sei hier nicht sicher, dann sagst du mir das und ich kümmere mich darum. Nicht du!“ donnerte er jetzt bereits zum sechsten Mal, und da endlich wurde mir klar, daß Sam sich um mich gesorgt hatte.
    Ich hatte nämlich ganz kurz einen entsprechenden Gedanken erhascht, der Sam durch den Kopf geschossen war, aber dann verbot ich mir umgehend und strikt, meinem Arbeitgeber weiterhin „zuzuhören“. Wenn man einem Chef zuhört, führt das zum Desaster.
    Mir war überhaupt nicht in den Sinn gekommen, Sam oder jemand anderen um Hilfe zu bitten.
    „Und wenn du denkst, es geht gerade jemandem auf unserem Parkplatz an den Kragen, dann rufst du die Polizei und stürzt dich nicht einfach blind ins Getümmel wie die gottverdammte Bürgerwehr!“ fauchte Sam als nächstes. Seine helle, immer leicht rötliche Haut leuchtete röter denn je, und sein dichtes goldenes Haar wirkte zerzaust und ungekämmt.
    „Ja doch, schon gut!“ erwiderte ich und gab mir alle Mühe, nicht zu zittrig zu klingen und die Augen so weit aufzureißen, daß die Tränen mir nicht ins Gesicht kullerten. „Schmeißt du mich jetzt raus?“
    Die Frage schien ihn noch mehr aufzubringen. „Nein!“ schrie er. „Ich will dich nicht verlieren!“ Mit diesen Worten packte er mich bei den Schultern und schüttelte mich. Danach stand er einfach nur da, mit weit aufgerissenen blauen Augen, aus denen Funken sprühten, und ich spürte die Hitzewelle, die von ihm ausging. Meine Behinderung verschlimmert sich mit direktem Körperkontakt, denn dann kann ich nicht verhindern, daß ich der betreffenden Person zuhöre, im Gegenteil: Zuhören wird zur zwingenden Notwendigkeit. Ich starrte ihn ziemlich lange an. Dann fiel mir wieder ein, wer und wo ich war, und ich sprang entsetzt zurück. Sam ließ die Hände sinken.
    Völlig verwirrt machte ich auf dem Absatz kehrt und verließ den Lagerraum.
    Ich hatte gerade ein paar höchst

Weitere Kostenlose Bücher