Vorübergehend tot
hinlegen und sterben wollen wie die anderen. Er sagte, das müsse an Ihren Genen liegen, da Ihre Oma ...“ Hier unterbrach Kevin sich, denn ihm war wohl klar, daß er kurz davor stand, ein Gebiet zu betreten, dessen Erörterung sehr schmerzhaft für mich war.
„Meine Oma hat sich auch gewehrt“, flüsterte ich.
In diesem Moment kam Kenya ins Zimmer, massiv, unbeeindruckt, in der Hand einen Plastikbecher mit heißem, duftendem Kaffee.
„Sie ist wach!“ verkündete Kevin und strahlte seine Partnerin an.
„Gut“, erwiderte Kenya, wobei sie sich nicht so anhörte, als würde sie sich vor Freude gleich überschlagen. „Hat sie gesagt, was passiert ist? Vielleicht sollten wir Andy benachrichtigen.“
„Ja, er sagte, wir sollen ihn rufen. Aber er schläft gerade mal vier Stunden.“
„Wir sollen ihn anrufen, hat er gesagt.“
Kevin zuckte die Achseln und ging zum Telefon neben meinem Bett. Ich glitt in einen Dämmerschlaf, in dem ich aber trotzdem noch hörte, wie Kenya und Kevin miteinander flüsterten, während sie auf Andy warteten. Das heißt, Kevin erzählte von seinen Jagdhunden und Kenya, nahm ich an, hörte ihm zu.
Nun war Andy ins Zimmer gekommen, denn ich konnte seine Gedanken spüren, das Muster seines Verstandes. Schwer ließ er sich neben mein Bett auf einen Stuhl sinken. Als er sich über mich beugte, um mich anzusehen, öffnete ich die Augen, und wir wechselten einen langen Blick.
Zwei Paar Füße in Schuhen, wie sie der Polizeidienst vorschreibt, traten hinaus auf den Flur.
„Er ist immer noch am Leben“, sagte Andy unvermittelt. „Er hört gar nicht auf zu reden.“
Ich bewegte meinen Kopf ein paar Millimeter in der Hoffnung, dies möge als Nicken gelten.
„Er sagt, es geht alles auf seine Schwester zurück, die eine Beziehung mit einem Vampir hatte. Offenbar hatte sie irgendwann nur noch so wenig Blut im Leib, daß Rene befürchtete, sie könnte sich selbst in eine Vampirin verwandeln, wenn er sie nicht daran hinderte. Eines Abends hat er ihr in ihrer Wohnung ein Ultimatum gestellt. Aber sie hat sich ihm nicht gebeugt, hat gesagt, sie wolle sich nicht von ihrem Liebsten trennen. Sie wollte gerade los zur Arbeit und war dabei, sich ihre Schürze umzubinden, als sie anfingen, sich zu streiten. Er riß ihr die Schürze aus der Hand und erwürgte sie damit... tat ihr dann auch noch anderes an.“
Andy sah aus, als sei ihm übel.
„Ich weiß“, flüsterte ich.
„Mir kommt es so vor“, setzte Andy dann erneut an, „als sei er zu der Überzeugung gelangt, alles, selbst so ein schrecklicher Akt, ließe sich rechtfertigen, wenn man wie er der Meinung war, Menschen wie seine Schwester verdienten den Tod. Die Morde hier, scheint es, ähneln auch zwei unaufgeklärten Morden in Shreveport, und wenn Rene weiterhin so drauflos plappert, dann können wir fest damit rechnen, daß er auf diese Morde ebenfalls zu sprechen kommt. Wenn er überlebt, heißt das.“
Wie entsetzlich! Die armen Frauen. Ich spürte, wie sich meine Lippen zusammenpreßten.
„Kannst du mir erzählen, was dir widerfahren ist?“ fragte Andy leise. „Nimm dir Zeit. Es macht nichts, wenn du flüsterst. Dein ganzer Hals ist voller blauer Flecken.“
Darauf hätte er mich nicht hinzuweisen brauchen - ich hatte mir schon so etwas gedacht. Murmelnd lieferte ich meinen Bericht der Ereignisse des vergangenen Abends, wobei ich kein Detail ausließ. Andy hatte ein kleines Tonbandgerät eingeschaltet, nachdem er mich gefragt hatte, ob mir das recht sei. Ich hatte ihm zu verstehen gegeben, daß er es ruhig laufen lassen konnte, und so hatte er es direkt neben meinen Kopf auf das Kissen gelegt, so dicht an meinen Mund, wie es irgend ging. Er wollte auf jeden Fall wirklich die ganze Geschichte mitbekommen.
„Ist Mr. Compton immer noch verreist?“ fragte er dann, als ich geendet hatte.
„New Orleans“, flüsterte ich. Mittlerweile war ich kaum noch in der Lage zu reden.
„Jetzt, wo wir wissen, daß das Gewehr dir gehört, suchen wir in Renes Haus danach. Das ist ein weiteres Indiz gegen ihn.“
Nun trat eine strahlende junge Frau ganz in Weiß ins Zimmer, warf einen Blick auf mein Gesicht und sagte, Andy müsse ein andermal wiederkommen.
Daraufhin nickte Andy mir zu, streichelte ein wenig unbeholfen meine Hand und ging, wobei er der Ärztin über die Schulter einen bewundernden Blick zuwarf. Sie war es wert, bewundert zu werden, aber außerdem trug sie einen Ehering. Andy war also wieder einmal zu spät dran.
Die
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